Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Bildrechte: dpa-Bildfunk/Ohad Zwigenberg
Audiobeitrag

Offener Streit zwischen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant: Was wird aus Gaza nach dem Krieg?

Audiobeitrag
>

Israels Regierung zerstritten: Was wird aus Gaza nach dem Krieg?

Israels Regierung zerstritten: Was wird aus Gaza nach dem Krieg?

Während Israels Armee ihre Militäroperation in Rafah ausweitet, bricht zwischen Premierminister Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant offener Streit aus: Was wird aus Gaza nach dem Krieg? Ohne Nachkriegsplan sei der Krieg nicht zu gewinnen.

Zur besten Sendezeit wolle er am Mittwochabend über seine Pläne sprechen, wie eine Nachkriegsordnung im Gaza-Streifen aussehen sollte. Damit hatte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant bereits die Aufmerksamkeit der israelischen Öffentlichkeit mehr als geweckt, wurde doch bereits seit längerem über das Zerwürfnis zwischen Gallant und der Armeeführung einerseits sowie Premierminister Benjamin Netanjahu andererseits gemutmaßt.

Gallant sollte die Erwartungen der Bevölkerung nicht enttäuschen: Alle großen TV-Kanäle schalteten live ins Verteidigungsministerium nach Tel Aviv, um Gallants Rede zu übertragen. Netanjahu solle eine Entscheidung über den sogenannten "Tag danach" treffen, also darüber, was nach einem Ende des Gaza-Kriegs mit dem palästinensischen Küstenstreifen geschehen solle. Der Premierminister müsse eindeutig erklären, "dass Israel keine zivile Kontrolle über den Gazastreifen errichten, keine militärische Herrschaft im Gazastreifen errichten wird und dass unverzüglich eine Regierungsalternative zur Hamas im Gazastreifen geschaffen werden wird".

Damit widersprach Gallant in allen zentralen Punkten seinem Regierungschef. Netanjahu hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass Israel auf unbestimmte Zeit die Sicherheitskontrolle über den Gaza-Streifen behalten müsse und dass eine Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde unter der Führung von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas undenkbar sei. Doch der Verteidigungsminister stellte am Mittwochabend in aller Öffentlichkeit klar: "Der 'Tag nach der Hamas' wird nur dann erreicht, wenn palästinensische Einheiten die Kontrolle über den Gazastreifen übernehmen, begleitet von internationalen Akteuren, die eine Alternative zur Hamas-Herrschaft aufbauen."

Netanjahu: Das kommt nicht in Frage

Kaum hatte sein Verteidigungsminister seine Ansprache beendet, ließ Premierminister Netanjahu eine volle politische Breitseite auf Gallant los: Solange die Hamas aktiv sei, werde keiner anderen Organisation gestattet, die zivilen Angelegenheiten im Gaza-Streifen zu regeln. Er halte nichts davon, zum jetzigen Zeitpunkt über die Vorstellungen zu sprechen, wie eine Nachkriegsordnung aussehen könne. "Ich bin nicht bereit, Hamas-Stan durch Fatah-Stan zu ersetzen", sagte Netanjahu unter Hinweis auf die national-säkulare Fatah-Bewegung von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas. Solange die Hamas an der Macht sei, werde niemand anderes die zivilen Angelegenheiten des Gazastreifens übernehmen. "Schon gar nicht die Palästinensische Autonomiebehörde."

Dass sich Netanjahu nicht entscheiden wolle, sei seine Strategie, analysiert die Tageszeitung "Yedioth Achronoth". Der Premierminister wolle, "dass sich die Situation von selbst so entwickelt, dass wir wieder den Gaza-Streifen verwalten, als ob dies nicht beabsichtigt wäre, als ob es sich um eine zufällige Entwicklung handelte." Es gebe keine sogenannte "Exit-Strategie", weil es keinen Exit, keinen Ausgang gebe. Verteidigungsminister Gallant habe "diesen Bluff am Mittwoch aufgedeckt und der Öffentlichkeit einen großen Dienst erwiesen".

Luftaufnahmen offenbaren Nachkriegspläne in Gaza

Israelische Einheiten hätten in den vergangenen Wochen und Monaten einen "strategischen Korridor" angelegt, der den Gaza-Streifen in zwei Hälften teile, berichtet die "Washington Post". Satellitenbilder und andere visuelle Hinweise zeigten, dass entlang der frisch angelegten, rund sechs Kilometer langen Straße israelische Stützpunkte errichtet und die dort stehenden Häuser und zivilen Einrichtungen zerstört worden seien. Die Schlussfolgerung der "Washington Post"-Recherche: Dieser Korridor sei nach Auffassung israelischer Experten "Teil eines groß angelegten Projekts zur Neugestaltung des Gaza-Streifens und zur Festigung der israelischen Militärpräsenz."

Der Militär-Korridor wird nach einer der ehemaligen israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen, die 2005 vollständig von Israel geräumt worden waren, Netzarim-Korridor genannt. Er befindet sich südlich von Gaza-Stadt und erstreckt sich von der israelischen Grenze zum Gaza-Streifen bis ans Meer. An der Küste treffe die Armee-Straße auf die "neue, sieben Hektar große Entladestelle für einen schwimmenden Pier", den die US-Armee seit Freitag nutzt, um mehr Hilfsgüter in den Gaza-Streifen zu bringen. Die Errichtung von Außenposten, Pufferzonen und Militärstraßen entlang des Netzarim-Korridors lasse auf eine "wachsende Rolle des israelischen Militärs" schließen, so die "Washington Post" abschließend. Zeitgleich gerieten "alternative Visionen für die Nachkriegszeit im Gaza-Streifen ins Wanken."

Israel müsse die "militärische Gesamtverantwortung" tragen

Unbeirrt hält Premierminister Netanjahu an seinem Versprechen eines "vollkommenen Sieges" über die Hamas fest. Eine Aussage, die in Ermanglung einer politischen Perspektive für die Palästinenser im Gaza-Streifen und im besetzten Westjordanland von zahlreichen Militärexperten als zunehmend illusorisch betrachtet wird. Erst nach einem Sieg könnte der Gaza-Streifen, so sagte Netanjahu am Mittwochabend dem US-Sender CNBC, von einer "zivilen Verwaltung verwaltet werden, die nicht der Hamas angehört und die militärische Gesamtverantwortung Israels trägt".

Doch alle bisherigen Versuche, einflussreiche Clanchefs im Gaza-Streifens für die Aufgabe zu gewinnen, scheiterten. Die Hamas habe Personen aus diesem Umkreis entweder massiv gedroht oder getötet, berichteten israelische und palästinensische Medien schon vor Wochen. Niemand wäre derzeit bereit, das Machtvakuum zu füllen und die Hamas zu ersetzen. Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert den Nahost-Experten Yossi Mekelberg vom britischen Thinktank "Chatham House" mit der Prognose: Israel habe nur zwei Möglichkeiten: "Entweder sie beenden den Krieg und ziehen sich zurück, oder sie errichten dort eine Militärregierung und kontrollieren das gesamte Gebiet für wer weiß wie lange, denn sobald sie ein Gebiet verlassen, wird die Hamas wieder auftauchen."

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!