Der amerikanische Präsident Joe Biden überraschte nicht allein seine eigenen Streitkräfte, als er am 7. März in seiner "State of the Union"-Ansprache vor dem Kongress in Washington diese Entscheidung ankündigte: "Heute Abend weise ich das US-Militär an, einen Notfalleinsatz zu leiten, um im Mittelmeer an der Küste des Gazastreifens eine provisorische Anlegestelle zu errichten, die große Schiffe mit Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und Notunterkünften aufnehmen kann." Mit dieser vorübergehenden Anlegestelle könnte die Menge an humanitärer Hilfe, die täglich nach Gaza gelange, "massiv erhöht werden."
Zu diesem Zeitpunkt, Anfang März, war Bidens Anordnung als deutliches Zeichen der Verärgerung über Israels Regierung gewertet worden. Schon in den Wochen zuvor hatte der US-Präsident immer wieder Kritik an der mangelnden Versorgung der Menschen im Kriegsgebiet geübt. Doch auch innenpolitisch stand Biden massiv unter Druck: Ihm drohten wichtige Wählerstimmen vor allem unter den jungen Amerikanern wegzubrechen, wie Bidens Wahlkampfteam an den Umfrageergebnissen ablesen konnte.
LKW konnten ab 17. Mai Hilfsgüter am Pier aufnehmen
Auch demokratische Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus warfen ihrem Präsidenten vor, nur ungenügend gegenüber Israel auf einer halbwegs ausreichenden Versorgung der palästinensischen Bevölkerung zu bestehen. Biden jedenfalls wollte mit seiner Entscheidung ein buchstäblich sichtbares Zeichen setzen: Binnen zweier Monate stellte das US-Regionalkommando "Centcom", das für den Einsatz amerikanischer Einheiten im Nahen und Mittleren Osten zuständig ist, den Hilfspier fertig.
Am 17. Mai konnten die ersten palästinensischen LKW die angelieferten Hilfsgüter am Pier aufnehmen. Es handele sich um eine "laufende, multinationale Aktion, um die palästinensische Zivilbevölkerung im Gazastreifen über einen ausschließlich humanitären Korridor mit Hilfsgütern zu versorgen," meldete das US-Regionalkommando "Centcom". Die Hilfsgüter seien "von einer Reihe von Ländern und humanitären Organisationen gespendet worden". Die Kosten für die Errichtung des Hilfspiers beliefen sich nach Angaben der "New York Times" auf 230 Millionen Dollar.
Immer wieder schwerer Seegang
Immer wieder unterbrach schwerer Seegang vor der Küste des Gazastreifens die maritimen Hilfslieferungen. Bereits Ende Mai musste das US-Verteidigungsministerium mitteilen, dass ein Unwetter das Pier beschädigt habe und daher in den israelischen Hafen von Ashdod abgeschleppt werden müsste. Nach einer Reparatur würde die schwimmende Anlegestelle wieder zurückgebracht werden.
Mit schwerer See sei vor der Küste normalerweise erst ab September zu rechnen gewesen, hieß es später von der US-Regierung. Auch nach der ersten Instandsetzung des Piers behielten humanitäre Hilfsorganisation mit ihren Einwänden recht: Der Behelfsanleger sei allenfalls eine vorübergehende Nothilfemaßnahme, aber eben sehr unzuverlässig. UN-Organisationen, die für den Abtransport der angelieferten Hilfsgüter vom Pier in die UN-Lagerhallen im Gazastreifen zuständig seien sollten, wiesen immer wieder daraufhin, dass sich ihre Mitarbeiter zudem stets großen Gefahren aussetzen müssten.
Vergangenen Freitag dann zeichnete sich das absehbare Ende des US-Projekts ab: Das Regionalkommando "Centcom" musste erneut melden, dass "aufgrund des zu erwartenden hohen Seegangs" der provisorische Pier "aus seiner Verankerung im Gazastreifen entfernt und zurück nach Ashdod in Israel geschleppt" müsse. Dadurch würden "strukturelle Schäden (am Pier) durch den erhöhten Seegang" verhindert. Leicht sei diese Entscheidung nicht gefallen. Sie sei aber "notwendig, um sicherzustellen, dass der provisorische Pier auch in Zukunft Hilfsgüter liefern kann".
Daran hegt das US-Militär intern offenbar allerdings Zweifel. Amerikanische Militärangehörige hätten die Hilfsorganisationen im Gazastreifen gewarnt, so berichtet die "New York Times", "dass das Projekt bereits im nächsten Monat abgebaut werden könnte". Davon würde sich die US-Militärs erhoffen, dass diese Fristsetzung "Israel unter Druck setzt, weitere Landrouten zu öffnen".
WHO: Viele Menschen leiden unter Hunger
Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, richtete sich in der vergangenen Woche erneut mit einer eindringlichen Warnung an die Öffentlichkeit: "Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung des Gazastreifens leidet derzeit unter katastrophalem Hunger und hungerähnlichen Bedingungen", sagte er. Es gebe zwar Berichte über eine verstärkte Lieferung von Nahrungsmitteln. Trotzdem gebe "es derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass die Bedürftigen in ausreichender Menge und Qualität mit Nahrungsmitteln versorgt werden".
Bei mehr als 8.000 Kleinkindern unter fünf Jahren sei "akute Unterernährung diagnostiziert wurde". Darunter befänden sich 1.600 Kleinkinder mit "schwerer akuter Unterernährung". Im gesamten Gazastreifen gibt nach Angaben des WHO-Generaldirektors nur noch zwei funktionsfähige "Stabilisierungszentren für schwer unterernährte Patienten arbeiten", im Norden des Landes und eines in Deir al Balah.
Im Video (Archiv): Gaza-Pier - Erste Hilfslieferungen gehen an Land
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