Nach dem Schusswechsel in der Nähe des israelischen Generalkonsulats in München, bei dem Polizisten einen 18-jährigen, mutmaßlich islamistischen Österreicher erschossen haben, erhärtet sich der Verdacht auf einen versuchten Terroranschlag. Keine zwei Wochen zuvor waren bei einem islamistischen Attentat in Solingen drei Menschen getötet und acht verletzt worden; im Mai tötete ein islamistischer Attentäter einen Polizisten in Mannheim. Experten warnen nun, dass sich Terror-Anschläge wie diese in Deutschland häufen könnten.
"Das Volumen dschihadistischer Aktivität hat sehr schnell und relativ dramatisch zugenommen", sagt Terrorismus-Experte Peter R. Neumann vom renommierten Londoner King’s College im Gespräch mit BR24. Seit Oktober 2023 habe es in Europa 29 versuchte Anschläge gegeben, von denen 22 verhindert werden konnten. Dies sei eine Vervierfachung binnen eines Jahres.
Nach der Terrorwelle 2016: Eine scheinbare Ruhe?
2015 und in den darauffolgenden Jahren hatte Europa eine Serie islamistischer Attentate erlebt. Bei Terroranschlägen wie in Paris im November 2015, Brüssel im März 2016 oder Nizza im Juli 2016 wurden Hunderte Menschen getötet. Im Dezember 2016 starben zwölf Besucher eines Weihnachtsmarktes in Berlin, als ein Terrorist einen LKW in die Menschenmenge steuerte. Nachdem die für die meisten dieser Anschläge verantwortliche Terrormiliz "Islamischer Staat" 2019 militärisch besiegt wurde, erlebte Europa zumindest in Sachen Terroranschläge ruhigere Jahre – bis jetzt.
"Ich glaube, dass das Potenzial für den Terrorismus nie weg war", sagt Mathieu Coquelin, Leiter der Fachstelle Extremismusdistanzierung im Demokratiezentrum Baden-Württemberg. Coquelin leitet zwei Erkenntnisse aus den jüngsten Anschlägen ab.
Messer-Attentate: Eine "maximal effektive" Strategie
Erstens seien die Attentäter heute deutlich jünger als noch vor ein paar Jahren, in vielen Fällen noch nicht mal volljährig. Zweitens hätte man es nun mit einer anderen Art von Anschlägen zu tun. Anstatt hochkomplizierter Planungen wie bei 9/11, seien Terroristen zu extrem niedrigschwelligen Methoden wie Messer-Angriffe übergegangen. Diese Strategie sei "maximal effektiv", weil so ohne viel Aufwand Angst in die Köpfe von möglichst vielen Menschen gepflanzt werden könne.
Peter Neumann zufolge sei es nun wichtig, bei der Prävention von Attentaten in die richtigen Bereiche zu blicken. "In den letzten acht, neun Jahren kamen in Deutschland zwei Drittel der dschihadistischen Attentäter oder Leute, die wegen dschihadistischem Terrorismus festgenommen wurden, aus dem Bereich Flucht und Asyl", so der Terrorismus-Experte. Deswegen sei es nun wichtig, dass sich Sicherheitsbehörden verstärkt auf diesen Bereich konzentrierten.
Gleichzeitig warnte der Experte, im Zusammenhang der Terrorismus-Debatte den Islam an sich zu kritisieren. "80 Prozent der Muslime in Deutschland sind keine Flüchtlinge und Asylbewerber und produzieren fast überhaupt keinen Terrorismus", so Neumann. Mathieu Coquelin zufolge sei das Schüren von Vorurteilen gegenüber Muslimen im Sinne der Terroristen – da Personen, die rassistisch diskriminiert würden, anfälliger seien für islamistische Demagogen.
TikTok: Schauplatz der Selbstradikalisierung
Den Experten zufolge würden sich heutzutage Islamisten vor allem auf Internet-Plattformen wie TikTok radikalisieren. "Ein möglicherweise ganz normales Video führt zu einem Islamisten, der Islamist zum Dschihadisten und plötzlich hast du eine Blase geschaffen auf sozialen Medienplattformen, wo du quasi mit dieser Art von Messaging bombardiert wirst und immer tiefer hineingerätst", beschreibt Neumann die Wirkung der Plattform. Daraus entstünden Gewaltfantasien und in einigen Fällen tatsächlich der Plan, einen terroristischen Anschlag zu verüben.
Coquelin bezeichnet TikTok als "Schnellkochtopf" der Radikalisierung. Islamisten würden auf der Plattform gezielt versuchen, junge Menschen von der demokratischen, offenen Gesellschaft zu entfremden. Der Experte fordert deswegen eine stärkere Regulierung von Plattformen wie TikTok. "Wir sehen, dass die Algorithmen den Hass bevorzugen; dass jeder Versuch, differenziert zu argumentieren, algorithmisch den Nachzug erhält. Das macht es extrem schwierig bis unmöglich, dagegen vorzugehen", so der Extremismus-Experte. Anbieter sollten verpflichtet werden, ihre Algorithmen offenzulegen, sodass "überall da, wo dem Hass nicht entgegengewirkt, sondern dieser begünstigt wird" eingegriffen werden könne.
Mehr geschultes Personal für Prävention und Aufklärung
Den Bereich Schule und Soziale Arbeit sieht Coquelin eigentlich als "sehr gute Hebel, um präventiv wirken zu können." Allerdings seien die Behörden nicht ausreichend sensibilisiert, um Radikalisierung im Netz zu erkennen und wirkungsvoll einzuschreiten.
Neumann zufolge brauche es Frühwarnsysteme und mehr geschultes Personal im Umgang mit Asylbewerbern, um Signale einer Radikalisierung rechtzeitig zu erkennen. Das Thema sei "politisch sensibel" – sollte man es allerdings ignorieren, profitiere davon nur die extreme Rechte, wie Fälle in anderen Ländern gezeigt hätten, so Neumann. "Die Bekämpfung des dschihadistischen Terrorismus ist keine Repression, sondern man tut im Gegenteil der liberalen Demokratie einen Gefallen, wenn man dafür sorgt, dass solche Anschläge nicht stattfinden", sagt Neumann.
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