Der politische Umbruch ist gewaltig, das Erbe der Diktatur und des verheerenden Bürgerkriegs lastet auf dem Neuanfang: 54 Jahre lang lebten und starben Generationen von Syrern in einem Land, das umgangssprachlich als "Assads Syrien" bezeichnet wurde. Es sei ein Ort gewesen, so schreibt die im Libanon lebende Journalistin Rania Abouzeid in der US-Zeitschrift "The New Yorker", an dem "Kindern beigebracht wurde, dass die Wände Ohren haben und dass ein falsches Wort dazu führen kann, dass sie verschwinden".
Die allgegenwärtige Angst vor den grausamen Unterdrückungsmethoden der Geheimpolizei des Regimes ist mit dem plötzlichen Ende des Diktators ebenso abrupt verflogen. Wer wird die politische Macht in Syrien künftig ausüben, in einem Land mit tiefen ethnischen, konfessionellen und politischen Trennlinien? Wird es gelingen, Syrien zu einem Gesamtstaat zusammenzuführen, angesichts der derzeitigen Dreiteilung des Landes in einen von Kurden beherrschten Nordosten, in einen von der Türkei dominierten Nordwesten und in den größten Teil Syriens, der weitgehend von der siegreichen islamistischen Rebellengruppierung Hajat Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert wird?
Erste Anzeichen für den Neubeginn in Syrien
Sehr rasch hat HTS-Anführer Abu Mohammed al-Dscholani eine Vielzahl von politischen Signalen ausgesandt: an die religiösen und ethnischen Minderheiten im Land, dass ihre Rechte gewahrt und respektiert würden; an die ehemaligen Mitglieder der Assad-treuen Behörden und Institutionen, dass ihnen nichts geschehen werde und sie ihre Arbeit fortsetzen sollten; und an die übrigen politischen Gruppierungen im Land, dass der Sieg über Assad allen Syrern gehöre.
Bis jetzt, so die Einschätzung der Syrien-Expertin Kristin Helberg im BR24-Interview, sei der Übergang geregelt und diszipliniert verlaufen. Dies zeige sich unter anderem in den Regionen Syriens, die von der HTS als erstes befreit worden sind, im Norden des Landes. Dort hätten "Regierungsmitglieder, Regime-Vertreter, Soldaten abziehen" dürfen. Es sei niemand automatisch verhaftet worden, so Helberg.
In der Großstadt Aleppo, die seit einer Woche unter der Kontrolle der HTS-Milizionäre steht, stünden die Weihnachtsbäume. "Die Christen können dort Gottesdienste abhalten. Keine Frau wurde gezwungen, ein Kopftuch anzuziehen". Die islamistische HTS scheine nicht allein "die richtigen Dinge zu sagen, sondern auch zu tun", sagt auch die Syrien-Expertin Natasha Hall im US-Sender CNN. Ihre Freunde in Syrien hätten ihr berichtet, dass die religiösen Minderheiten beruhigt seien. Ob sich diese Entwicklung in den kommenden Wochen fortsetzen wird, wird nicht allein von den befreiten Syrerinnen und Syrern sehr aufmerksam verfolgt werden.
Hoffnungen der syrischen Opposition im Exil
Der Sturz des Assad-Regimes sei eine Gelegenheit für syrische Politiker aller Couleur, sich "an einen Tisch zu setzen", um die nächste Phase der Geschichte des Landes zu gestalten. Dima Moussa, Vizepräsidentin der Nationalen Koalition der syrischen revolutionären und oppositionellen Kräfte, lebt seit über zehn Jahren im türkischen Exil. Der britischen BBC sagte die Exilpolitikerin, der Übergang in eine neue politische Zukunft erfordere "das Zusammenkommen aller Syrer, auch derer, die Waffen tragen".
Syrien habe das dunkle Kapital in seiner Geschichte hinter sich gelassen. Wie denn ein friedlicher Übergang gewährleistet werden könne, angesichts der Tatsache, dass die Oppositionsparteien sehr unterschiedliche politische Standpunkte vertreten?
"Natürlich werden wir alle für das kämpfen, was wir wollen. Wir wollen es nur auf friedliche Weise tun." Dima Moussa tritt für ihre liberalen feministischen Überzeugungen sein. Rebellenführer Abu Mohammed al-Dscholani blickt auf eine dschihadistische Vergangenheit zurück. Der Chef der wesentlichen Exil-Oppositionsgruppe, Hadi al-Bahra von der syrischen nationalen Koalition, plädiert für eine 18 Monate andauernde Übergangsphase, um "ein sicheres, neutrales und ruhiges Umfeld" für freie Wahlen herzustellen. Syrien, so zitiert ihn die Nachrichtenagentur Reuters, sollte in den kommenden sechs Monaten einen Verfassungsentwurf ausarbeiten – ein Vorhaben, an dem die Exilopposition in den vergangenen Jahren mehrmals gescheitert ist.
Im Video: Syrien - Unsicherheit nach Assad-Sturz
Vorbereitungen für eine Übergangsregierung
In der Nacht zu Montag habe sich der HTS-Anführer al-Dscholani mit den beiden Spitzenvertretern des alten Assad-Regimes getroffen, mit Assads Ministerpräsidenten Mohammed Jalati und Vizepräsident Faisal Mekdad. Dies berichtet die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf eine mit den Gesprächen vertraute Quelle. Das Ziel: die Bildung einer Übergangsregierung.
Die erste Personalentscheidung deutet auf eine Dominanz der islamistischen HTS hin. So meldet der arabische Nachrichtensender Al Jazeera, dass die Übergangsregierung von Mohammed al-Bashir angeführt werden solle. Al-Bashir habe zuvor das kleine Gebiet im Nordosten Syriens als Verwaltungschef geleitet, das von der HTS vor Beginn der Blitzoffensive beherrscht worden sei.
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