Wenn eine Ministerin eine politische Grundsatzrede ankündigt, ist klar: Es soll um die großen Linien gehen – um Prinzipien, die über die Tagespolitik hinausweisen. So war auch der heutige Auftritt von Christine Lambrecht bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin angelegt. Passend dazu die Überschrift, die die renommierte Denkfabrik der Veranstaltung mit der Verteidigungsministerin gegeben hatte: "Implikationen der 'Zeitenwende' für Deutschlands Nationale Sicherheitsstrategie".
"Allein mit Bedächtigkeit, mit dem Rückgriff auf bewährte bundesrepublikanische Traditionen werden wir in Zukunft nicht mehr sicher leben können", führte Lambrecht mit ungewohntem Pathos aus. Im Klartext: Die Zeiten, in denen sich Deutschland bei der Landes- und Bündnisverteidigung auf andere verlassen konnte, sind aus ihrer Sicht vorbei. Mit dem bisherigen Selbstverständnis der Bundesrepublik sei jedenfalls "die Zukunft unserer Kinder und Enkel in Frieden und Freiheit nicht mehr zu garantieren", sagte Lambrecht.
Lambrecht fordert Führungsrolle für Deutschland
Die Schlussfolgerung liegt für die Verteidigungsministerin auf der Hand: Deutschland müsse eine Führungsrolle in Europa übernehmen – auch in militärischen Fragen. Dafür sei es nötig, dass die Bundesrepublik gemäß dem Nato-Ziel auf Dauer zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in die Verteidigung investiert und den bisherigen Sicherheitsgaranten – die USA – in Europa entlastet.
Als mahnendes Beispiel griff die SPD-Politikerin die Entwicklung im Osten des Kontinents auf. Der russische Angriff auf die Ukraine habe "auch uns friedensgewohnten Deutschen" gezeigt, dass Staaten ein starkes Militär bräuchten, um einen Aggressor abzuwehren: "Die Ukraine heute existiert nur deswegen, weil sie sich militärisch wehren kann." Folglich benötige Deutschland "kampfbereite Streitkräfte", die in der Lage seien, das eigene Territorium und das Bündnisgebiet notfalls zu verteidigen.
So weit, so grundsätzlich. Doch mit dem – aktuell wohl unvermeidlichen – Hinweis auf die Lage in der Ukraine beteiligte sich Lambrecht dann doch an der tagespolitischen Diskussion. Ohnehin war erwartet worden, dass sie auf die eine Frage eingeht, die gerade so viele bewegt – nicht nur in der Ampel-Koalition. Nämlich auf die, ob Deutschland angesichts der jüngsten Erfolge der Ukraine dem Land nun doch eigene Kampfpanzer liefert.
Panzerlieferungen: Lambrecht bleibt bei bisheriger Linie
Die Antwort dürfte die Kritik an der Linie der Ministerin kaum verstummen lassen. Denn Lambrecht blieb bei ihrer Position, wonach es keine deutschen Alleingänge geben werde. Kein anderes Land habe bisher westliche Schützen- oder Kampfpanzer in die Ukraine geschickt – und bei der Abgabe von Waffensystemen aus Bundeswehrbeständen sei die Bundesregierung bereits an Grenzen gestoßen.
Außerdem verwies die Ministerin erneut auf den sogenannten Ringtausch beispielsweise mit Tschechien oder Griechenland, bei dem Nato-Partner Panzer sowjetischer Bauart zur Verfügung stellen und Deutschland die entstehenden Lücken auffüllt. Allerdings ist bisher noch keines dieser Tauschvorhaben vollzogen worden.
Kurz nach dem Auftritt von Lambrecht nahm auch derjenige Stellung, bei dem die Entscheidung über Art und Umfang von Waffenlieferungen de facto liegt: Auch Olaf Scholz bekräftigte seine bisherige Haltung: "keine deutschen Alleingänge". Man habe "sehr effiziente Waffen" geliefert, die bei den laufenden Gefechten im Osten der Ukraine "den Unterschied machen", sagte Scholz bei einer Pressekonferenz. Er nannte den Flugabwehrpanzer Gepard, die Panzerhaubitze 2000, Mehrfachraketenwerfer und das Flugabwehrsystem Iris-T.
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Deutschland liefert schwere Waffen – aber keine Kampfpanzer
Tatsächlich kann die Bundesregierung auf umfangreiche Lieferungen verweisen – auch auf solche von schweren Waffen. Insgesamt hat Deutschland beispielsweise 20 der von Scholz erwähnten Gepard-Panzer in die Ukraine geschickt, weitere sollen folgen. Das geht aus einer Liste im Internet hervor, die die Regierung regelmäßig aktualisiert.
Von den Panzerhaubitzen sind mittlerweile zehn geliefert worden, von den Mehrfachraketenwerfern drei. Auf das Luftverteidigungssystem Iris-T wartet die Regierung in Kiew noch. Vor Kurzem aber hat die Ukraine der Liste zufolge das Ortungsradar Cobra erhalten. Damit können gegnerische Artilleriestellungen ausfindig gemacht werden.
Dass Scholz und Lambrecht diese Liste nach wie vor nicht um die von der Ukraine gewünschten Panzer erweitern wollen, verschärft den koalitionsinternen Streit. Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang etwa sprach sich am Nachmittag für weitere Waffenlieferungen aus: "Die Zeit der Zögerlichkeit muss vorbei sein. Es muss mehr geliefert werden."
Und auch der stellvertretende FDP-Chef Johannes Vogel forderte, die Lieferung schwerer Waffen auszuweiten – "auch abseits des zähen Ringtauschs". Das schließe zum Beispiel Schützenpanzer vom Typ Marder ein. Dabei handelt es sich um ausgemusterte Panzer, die von der Industrie instandgesetzt werden und die nach bisheriger Planung nicht der Ukraine, sondern Nato-Partnern zur Verfügung gestellt werden sollen – im Rahmen des Ringtauschs.
Scholz lässt eine Hintertür offen
Auch nach diesem Wochenende der militärischen Erfolge für die Ukraine scheint die Diskussion in Berlin auf der Stelle zu treten. FDP und Grüne fordern mehr Waffenlieferungen (die Union sowieso), doch die SPD bremst. Allerdings lässt sich Scholz eine Hintertür offen. Auch heute schloss er eine Lieferung deutscher Kampfpanzer nicht kategorisch aus, sondern betonte lediglich, dass die Bundesrepublik nicht im Alleingang vorpreschen werde.
Sollte sich also ein Meinungsumschwung im Bündnis abzeichnen, hätte das Kanzleramt einen gewissen Entscheidungsspielraum gewahrt. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte bereits klargestellt, wo er die Prioritäten sieht: In seinen Augen ist es wichtiger, die Ukraine zu unterstützen, als nach Plan gefüllte Waffenlager in Nato-Staaten zu haben.
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