Mehrere Tage lang warb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj diese Woche in den USA für seinen "Siegesplan", der eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld und damit die Grundlage für mögliche Gespräche mit Russland schaffen soll. Man sei dem Frieden näher als gedacht, sagte Selenskyj dem US-Sender ABC News. Hat sich der Krieg zugunsten der Ukraine gewendet, während die Welt mit den Entwicklungen im Nahen Osten abgelenkt war?
"Selenskyj muss verhindern, dass die Ukraine zum Hintergrundgeräusch wird"
Nein, sagt Sicherheitsexperte András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im neuen "Possoch klärt" (Video unten). Selenskyjs "Siegesplan" und die Rede von einem nahen Frieden sei "politische Kommunikation, nichts weiter". Keine der beiden Seiten sei aktuell derart überlegen, um den Krieg beenden zu können. US-Militärexperte Matthew Schmidt (University of New Haven) sieht darin den Versuch, die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft zurück auf die Ukraine zu lenken. "Selenskyj weiß, wie die Medienlandschaft funktioniert. Er muss verhindern, dass die Ukraine für den Westen zum Hintergrundgeräusch wird", sagt Schmidt gegenüber BR24.
Die Ukraine steht im Osten des Landes stark unter Druck, die Russen rücken dort seit Wochen langsam, aber kontinuierlich vor. Gleichzeitig führt Russland Bombenangriffe auf die Energie-Infrastruktur der Ukraine durch. Vor allem sogenannte Gleitbomben richten verheerende Schäden an und treffen immer wieder auch Zivilisten. "Gleitbomben sind praktisch nicht abzuwehren, deswegen kann sich Russland so buchstäblich durch die ukrainische Verteidigung sprengen", sagt DGAP-Experte Rácz.
Im Video: Ist die Ukraine vor der Niederlage oder kurz vor dem Frieden?
Die Lage an der Front ist stabil
Beide Experten schätzen die Lage insgesamt allerdings weniger dramatisch ein, als es die Nachrichten vermuten lassen. "Strategisch gesehen ist die Frontlinie stabil. Russland hat ein paar taktische Geländegewinne erzielt, aber diese waren klein. Es ist absolut unfundiert, deswegen von einem Kollaps auszugehen", sagt Rácz. Matthew Schmidt sieht die russische Armee nicht in der Lage, groß weitere Gebiete erobern zu können: "Die Ukraine kann sich immer noch behaupten. Außerdem haben sie in den letzten Jahren Verteidigungslinien errichtet, die weitere russische Vorstöße aufhalten werden. Russland kann vielleicht bis zu einem gewissen Punkt weiter vordringen, aber nicht viel weiter als die aktuelle Frontlinie."
Schmidt wertet vor allem die Operation in Kursk als Erfolg. Die ukrainische Armee war im August über die russische Grenze vorgedrungen und hält seitdem nach eigenen Angaben um die 1.000 Quadratkilometer russischen Bodens besetzt. "Mit der Operation in Kursk hat die Ukraine eine neue Dynamik geschaffen", so der Experte.
Operation in Kursk: Ein unverhoffter Erfolg
"Vor einem Monat war die Ukraine noch in einer viel schlimmeren Position als jetzt. Jetzt haben sie Bewegung reingebracht und die Möglichkeit geschaffen, die Richtung des Krieges zu verändern." Außerdem trügen die Kämpfe in Kursk den Alltag des Krieges auch näher in die russische Gesellschaft, was das innenpolitische Risiko für Putin erhöhe. "Das Gespür für die wahren Kosten und das wahre Ausmaß des Krieges ist in der russischen Bevölkerung nun so groß wie nie", ist sich Schmidt sicher.
Die Militärexperten weisen zudem darauf hin, dass auch Russland Probleme habe – mit dem Nachschub an Soldaten und Ausrüstung. "An der Front fehlt es Russland zunehmend an Panzern und sogar an Personentransportern", sagt Rácz. Schmidt zufolge werde Russland im Jahr 2025 mindestens für ein Jahr lang seine Verluste an Material nicht ausgleichen können.
2025: Das "Jahr der Möglichkeiten" für die Ukraine
Deswegen öffne sich für die Ukraine ein Zeitfenster, in dem sie Russland durch einen Vorstoß an den Verhandlungstisch zwingen könnte. "2025 wird das Jahr der Möglichkeiten für die Ukraine und die Frage wird sein, ob die Ukraine genug Soldaten mobilisieren kann, um weiter in die Offensive zu gehen", sagt Schmidt.
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