"Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?" So hatte es SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich im Bundestag formuliert – und ist dafür scharf kritisiert worden.
Bereits im Februar hatte Papst Franziskus in einem Interview ähnlich formuliert: "Schämt Euch nicht, zu verhandeln." Ein Ende der Kriegshandlungen ohne politische Lösung würde Menschenleben schonen.
Sollte das Einfrieren des Ukraine-Kriegs also nicht wenigstens als Idee diskutiert werden? Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln, hält den Gedanken im BR24-Interview für "Possoch klärt" (Video oben, Link unten), für schwierig: "Präsident Putin und alle, die für ihn sprechen, haben immer wieder deutlich gemacht: Es geht um die gesamte Ukraine."
Eingefrorener Konflikt erfordert mehr militärisches Engagement als weniger
Der Westen muss laut Jäger also in der Ukraine eine "Abschreckung organisieren, die ähnlich stabil ist wie die Abschreckung gegen die Sowjetunion war. Und das sind amerikanische Nuklearwaffen." Es sei jedoch momentan niemand bereit, diese Abschreckung zu leisten.
Sicherheits- und Verteidigungsexperte Nico Lange weist im BR24-Interview auf ein ähnliches Paradoxon hin: "Wenn man sagt, man will diesen Konflikt einfrieren, dann wird man nur glaubwürdig dadurch, dass man zum Beispiel bereit ist, deutsche Soldatinnen und Soldaten an die eingefrorene Kontaktlinie zu schicken, um dann diesen eingefrorenen Konflikt zu schützen; unser Engagement würde bei so einer Überlegung des Einfrierens höher werden müssen."
Würde aber ein eingefrorener Krieg, also das Einstellen der Kampfhandlungen ohne Lösung des eigentlichen Konflikts, zumindest die Möglichkeit geben, die Lage zu deeskalieren? "Ich bin da sehr pessimistisch", sagt Jäger, "weil sich Russland inzwischen zu einem Staat entwickelt hat, der die Gewalt nach innen und außen quasi braucht, um die Legitimität des Regimes aufrechtzuerhalten, dann ist die Option des Einfrierens nur eine, die dann letztlich irgendwann dazu führt, dass von Russland diese Lage erneut aufgetaut wird, also dass wieder Krieg geführt wird".
Im Video: Ukraine-Krieg einfrieren? Possoch klärt!
Die jüngere Geschichte zeigt: Einfrieren funktioniert nicht
Eingefrorene Konflikte gab es fast nur im postsowjetischen Raum, sagt der Sicherheitsexperte Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg im Interview mit t-online [externer Link; möglicherweise Bezahlinhalt].
Beispiele sind der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, die abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien und das moldauische Separatistengebiet Transnistrien. All diese Konflikte verbindet, dass Russland eine große Rolle dabei gespielt hat und diese Konflikte teils sehr blutig geführt und dann eingefroren worden sind, ohne eine politische Lösung zu finden. Diese sollte im Laufe der Zeit durch wirtschaftlichen und politischen Austausch kommen. Funktioniert hat das nie.
Aserbaidschan hat erst im vergangenen Jahr mit militärischen Mitteln die Konfliktregion Bergkarabach erobert. In Transnistrien ist die Lage angespannt seit im Februar transnistrische Separatisten Moskau um "Schutz" gebeten und in Georgien hat es 2008 zunächst eine Provokation der Regierung gegeben und dann einen russischen Einmarsch. Gelöst ist der Konflikt um die abtrünnigen Regionen aber auch hier nicht.
Nico Lange ergänzt die Liste der Beispiele um ein weiteres: die Ukraine. "Natürlich gibt es überhaupt gar keine Anzeichen, dass das Einfrieren zu einem Frieden beitragen würde. Denn der Ukraine-Konflikt war ja eingefroren – bis Wladimir Putin am 24. Februar 2022 seinen großen Angriff gestartet hat." Lange spielt dabei auf das Minsker Abkommen an, das – am Ende vergeblich – eine politische Lösung des Ukraine-Konflikts erreichen wollte.
China als Vermittler?
Selbst wenn sich in der Debatte hierzulande eine Mehrheit für ein Einfrieren fände, dazu zwingen kann Deutschland, kann der Westen die Ukraine und Russland nicht. Einige, unter ihnen auch Rolf Mützenich, führen deshalb China als Vermittler an. Tatsächlich hat China jüngst eine Konferenz "auf Augenhöhe" zwischen Moskau und Kiew ins Spiel gebracht.
Thomas Jäger hält diese Vorstellung für abwegig: "Dass China der Staat ist, der Russland zwingen könnte, das ist richtig, aber wir wissen seit zweieinhalb Jahren, dass China das nicht will, sondern der Krieg liegt im Interesse Chinas, also die Vorstellung, nach zweieinhalb Jahren zu sagen, China müsste, die kann man nur haben, wenn man die letzten zweieinhalb Jahre nicht mitbekommen hat, was ist."
Ukraine-Krieg einfrieren: Was wäre, wenn?
Das Einfrieren des Konflikts ist also nach Ansicht der Experten keine richtige, realistische Friedenslösung, und die Geschichte von eingefrorenen Konflikten belegt dies. Aber ist ein eingefrorener Konflikt nicht unausweichlich, sofern sich an der Unterstützung des Westens für die Ukraine nichts ändert? Die vollständige Rückeroberung der von Russland eroberten Gebiete traut der Ukraine kaum noch jemand zu. Die Front hat sich seit einem Jahr nur minimal verändert.
Was würde eigentlich passieren, wenn Russland und die Ukraine doch sagten: Wir stellen die Kriegshandlungen vorerst ein? Nach Ansicht von Thomas Jäger hätte das im Westen den sofortigen Effekt, dass alle Anstrengungen und Sondervermögen hinterfragt werden würden: "Sofort ginge die Diskussion darüber los, ob man wirklich die Bundeswehr so stark aufrüsten muss, ob man wirklich das Geld für Verteidigung ausgeben muss."
Ein Einfrieren liege demnach im russischen Interesse, da es für Moskau eine ganze Reihe politischer Vorteile bringen würde, sagt Jäger. "Das ist richtig gutes Framing für eine Konfliktlösung, die es nicht gibt."
Nico Lange warnt in diesem Zusammenhang vor zu viel Populismus in der Debatte: "Ich glaube, dass das [Einfrieren] Wunschdenken ist, und ich sehe auch alle, die politisch handeln, in der Verantwortung, hier Dinge vorzuschlagen, die in der Realität auch möglich sind. Alles andere wäre Populismus."
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