Zwei Jahre Krieg in der Ukraine und die Lage ist angespannter denn je: "Die Situation ist schlecht", hatte der ukrainische Außenminister vor zwei Wochen bei der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt, "wir bekommen die Nachricht von der Front: Wir brauchen mehr Munition".
Laut Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations eine Situation, die man hätte kommen sehen können: "Die ersten zwei Jahre wurde die Ukraine hauptsächlich aus Depots und mit dem, was man am Weltmarkt kaufen konnte, versorgt, aber im Westen hat man sich stur nicht auf einen langen Krieg eingestellt, Russland schon." Gressel betont im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten): "Bei der Munition ist die Situation tatsächlich sehr schlimm."
Ukraine ohne Munition: Leichtes Spiel für Russland
Deutschland hat der Ukraine erst vor kurzem ein Flugabwehrsystem vom Typ Skynex geliefert samt 10.000 Schuss Artilleriemunition. Das reicht für zwei Tage. Denn die Ukraine bräuchte Schätzungen zufolge zwei bis 2,4 Millionen Artilleriegranaten pro Jahr. Die monatelang umkämpfte Stadt Awdijiwka musste die Ukraine vor allem deshalb aufgeben, weil es an Artilleriemunition mangelte.
"Ohne Artilleriemunition kann die Ukraine nur im begrenzten Ausmaß Sperrfeuer auf angreifende russische Verbände schießen, weil sie einfach wenig Munition hat, und weil sie auch immer nicht weiß, ob kleinere Angriffe wirklich der Angriff sind, den sie jetzt bekämpfen muss oder am nächsten Tag dann ein größerer Angriff erfolgt". Gustav Gressel, European Council on Foreign Relations
"Uns läuft die Zeit davon"
Putin lässt in Russland die Kriegswirtschaft auf Hochtouren laufen. Im Westen wird nach Ansicht Gressels zwar viel geredet, aber nichts passieren, weshalb alle Lieferungen in Zeitverzug geraten: "Ein Kampfpanzer braucht drei Jahre, bis er produziert wird, ein Schützenpanzer etwa zwei Jahre, ein gepanzertes Geschütz wie eine Caesar 18 Monate."
Marc Thys, Generalleutnant im Ruhestand und ehemaliger Vice-Chef de la Défense der belgischen Streitkräfte, macht im BR24-Interview die Dimensionen des Produktionsstaus deutlich: "Wenn man heute bestellt, dauert es bei manchen Munitionsarten bis zu sieben Jahren, bis man seine Bestellung erhält. Uns läuft einfach die Zeit davon."
Im Video: Ukraine-Krieg – Gehen dem Westen die Waffen aus?
Wie viel Munition lagert eigentlich noch in Europa?
Vielleicht gib es noch eine Million Artilleriegranaten in den europäischen Depots, das ist eine Schätzung aus der Branche, die das Handelsblatt zitiert [externer Link; möglicherweise Bezahlinhalt]. Aber wie viele es wirklich sind, weiß niemand. Es gibt keine Datenbank, in der man sehen könnte, welches Land in Europa noch wie viel Munition hat.
Viele Länder, darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien haben ihre Kapazitäten nach dem Ende des Kalten Krieges zurückgefahren. 1990 gab es in Deutschland beispielsweise noch 545.000 Soldaten, 2023 nur noch 192.200. In manchen Staaten sind Munitionszahlen auch ein Militärgeheimnis, etwa in Finnland oder in Italien.
Europa kann nicht liefern, die USA wollen nicht
Ein Partner, auf den sich Europa in Sachen Militär bislang allerdings immer verlassen konnte: die USA. Umso mehr sorgte die Aussage des republikanischen US-Senators J.D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz für Nervosität: "Wir stellen nicht genügend Munition her, um einen Krieg in Osteuropa, im Nahen Osten und eventuell in Ost-Asien zu unterstützen, die USA sind grundsätzlich begrenzt in ihren Möglichkeiten."
Ein Argument, das Liana Fix vom Council on Foreign Relations aus Washington, D.C., im BR24-Interview für nicht stichhaltig hält: "J.D. Vance ist ein Vertreter dieser Trump-loyalen Fraktion im Repräsentantenhaus, der schon lange eine isolationistische Außenpolitik für die USA fordert, also der aus Prinzip nicht möchte, dass sich die USA international engagieren und deswegen sehr viele unterschiedliche, elaborierte Gründe angibt, warum man der Ukraine nicht helfen möchte."
Auch das US-Wirtschaftsmagazin Forbes [externer Link; möglicherweise Bezahlinhalt] berichtet von knapp fünf Millionen Schuss Artillerie, die die US-Streitkräfte nicht mehr nutzen und die der Ukraine geschickt werden könnten. Das Argument, die USA stießen beim Engagement gleichzeitig in mehreren Kriegen oder Konfliktherden an ihre Grenzen, sieht Fix ebenfalls skeptisch: "Ein Konflikt mit China würde auf einer völlig anderen Dimension stattfinden, aber wenn man davon ausgeht, dass China nicht in den nächsten Jahren einen Konflikt mit Taiwan provoziert, dann ist genug für die Ukraine da, was geschickt werden könnte. Es fehlt eben die politische Unterstützung."
Hinzu kommt die Machtprobe zwischen Republikanern und Demokraten im Kongress, die ein Hilfspaket für die Ukraine seit Monaten blockiert.
"Die alten Zeiten kommen nicht wieder"
"Zeitenwende" war das politische Schlagwort in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022, also drei Tage nach Kriegsbeginn. Ein Sondervermögen für die Bundeswehr wurde beschlossen, Aufrüstung und "Kriegstüchtigkeit" angestrebt. Ist Deutschland aber womöglich nicht bereit für so eine Zeitenwende? Vize-Kanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) machte bei der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich:
"Die alten Zeiten kommen nicht wieder – zumindest nicht nächsten Monat. Es gibt also keinen Grund, zu zögern und nicht in die Verteidigungsindustrien zu investieren. Wir hätten das schon vor zwei Jahren tun sollen." Robert Habeck, Vize-Kanzler und Bundeswirtschaftsminister
Die Hoffnung, dass in Bezug auf Russland irgendwann einmal wieder "Normalität" herrscht, macht auch Politik-Professor und Russlandexperte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck im BR24-Interview zunichte: "Ich sehe keine Perspektive für ein Tauwetter zwischen dem Westen und Russland, solange Wladimir Putin an der Macht ist und das kann noch sehr lange sein."
"Wir sind nicht bereit, unsere Sicherheit zu verteidigen"
"Ohne Sicherheit ist alles nichts", sagte Kanzler Scholz bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Ein Satz, dessen Konsequenz für Marc Thys auch bedeutet, für den Frieden zu kämpfen. "Niemals in der Geschichte gab es eine Gesellschaft, die so lange wie unsere in Sicherheit und Wohlstand gelebt hat, und gleichzeitig merke ich, dass wir nicht bereit sind, das zu verteidigen."
Die Gesellschaft erhalte einen Weckruf, das Bewusstsein, dass Frieden nicht geschenkt, sondern Arbeit sei, würde sich erst nach und nach breitmachen. Ein Gradmesser hierfür kann das Zwei-Prozent-Ziel der Nato sein, das Deutschland gemeinsam mit 18 der 31 Nato-Staaten nach langer Zeit erstmals wieder erreicht.
Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, träumt indes schon von "Militärausgaben wie im Kalten Krieg": drei bis vier Prozent der Wirtschaftsleistung müssten drin sein. Was es rein faktisch auch bräuchte, um die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte auch nur annähernd auszugleichen.
Aufrüstung = Kriegstreiberei?
Militärausgaben wie im Kalten Krieg, das klingt für die einen nach dem angemessenen Einsatz für Sicherheit, für andere nach Kriegstreiberei. Auch Kanzler Scholz hat in der Debatte um Taurus-Marschflugkörper für die Ukraine gesagt, ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger sei skeptisch, ob Deutschland nicht zu viel macht. Es würde helfen, meint Scholz, wenn das irgendwann mal Gegenstand einer Debatte wäre. Denn die Unterstützung für die Ukraine könne nur so lange aufrechterhalten werden, wenn die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger auch überzeugt sei, dass das richtig ist.
Vom Vorwurf der Kriegstreiberei hält Liana Fix wenig: "Diejenigen, die sich in Deutschland als pazifistisch verstehen oder das als eine kriegstreiberische Politik ansehen, berufen sich ja gerne auf die Ostpolitik oder auf Willy Brandt. Tatsächlich ist es so, dass die Ostpolitik unter Willy Brandt nur unter hohen Verteidigungsausgaben durchgeführt werden konnte und Willy Brandt selbst auch niemals diesen Teil der Abschreckung infrage gestellt hat." Gesprächsbereitschaft und Dialog könnten nur auf Basis einer gefestigten Abschreckung passieren, weil man sich sonst erpressbar machen würde.
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