Mit ihrem Rückzug aus der monatelang umkämpften Stadt Awdijiwka hat die ukrainische Armee einen weiteren Rückschlag in ihrem Abwehrkampf gegen Russland erlitten. Die Einheiten wurden aus der Stadt abgezogen und zogen sich auf günstigere Verteidigungslinien zurück, um eine Einkreisung zu vermeiden und das Leben der Soldaten zu schützen, wie der neue Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj am frühen Samstagmorgen auf X und Facebook schrieb.
Gegenwehr und herbe Verluste
Russische Truppen seien von mehreren Seiten vorgerückt, analysierten ISW-Experten. Durch Fotos sei belegt, dass russische Truppen von Norden her an der großen Kokerei von Awdijiwka vordrangen. Um einer Einkesselung zu entgehen, wurden die ukrainischen Streitkräfte zurückgezogen.
Der ukrainische Oberbefehlshaber Syrskyj schrieb, die Soldaten erfüllten ihre militärische Pflicht mit Würde und machten alles, "um die besten russischen Militäreinheiten zu vernichten". Sie fügten dem Feind erhebliche Verluste an Personal und Ausrüstung zu. Die ukrainische Luftwaffe zerstörte nach eigenen Angaben unter anderem drei russische Kampfflugzeuge. Die erbitterten Kämpfe wurden von Militärs beider Seiten als "Fleischwolf" bezeichnet.
Syrskyj weiter: "Wir ergreifen Maßnahmen, um die Lage zu stabilisieren und unsere Positionen zu halten." Das Leben der Militärangehörigen sei der höchste Wert. Die Armee will die Stadt mit einst etwa 30.000 Einwohnern aber offenbar nicht aufgeben. Man werde zurückkehren, sagte er weiter.
Selenskyj spricht von "professioneller Entscheidung"
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj begründete den Rückzug aus der seit Monaten hart umkämpften ostukrainischen Stadt mit dem Schutz von Menschenleben. Am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz sagte er, es handle sich um eine "logische, gerechte und professionelle Entscheidung, um so viele Leben wie möglich zu retten".
Für die russische Armee bedeute dies jedoch keinen Vorteil: "Die Entscheidung für den Rückzug wurde getroffen, aber Russland hat damit nichts gewonnen", betonte der ukrainische Präsident.
Selenskyj führte ausbleibende ukrainische Erfolge auf dem Schlachtfeld auch auf den Mangel an Artillerie und Waffen mit hoher Reichweite zurück. Dadurch werde "unser Handeln eingeschränkt". Mit mehr Waffensystemen zur Luftabwehr und Artillerie mit höherer Reichweite könne die Ukraine "Ziele erreichen", warb Selenskyj für weitere Waffenlieferungen.
Russland kommentiert Rückzug nicht
Das russische Militär äußerte sich zunächst nicht zu der veränderten Frontlage bei Awdijiwka. Russische Truppen versuchten seit Oktober 2023 - unter hohen Verlusten - Awdijiwka zu erobern. Die ehemalige Industriestadt war seit 2014 Vorposten der Ukraine in unmittelbarer Nähe zu Donezk, der russisch beherrschten Hauptstadt des Kohle- und Stahlreviers Donbass. In den vergangenen Tagen war die Lage der ukrainischen Verteidiger dort immer schwieriger geworden.
Eine Eroberung der Stadt durch russische Truppen sei zwar strategisch nicht bedeutend, sie lasse sich aber vom Kreml propagandistisch ausschlachten vor der russischen Präsidentenwahl im März, schrieben die Experten des US-amerikanischen Instituts für Kriegsstudien. Zuletzt hatte die Ukraine im Frühjahr 2023 die ebenfalls monatelang umkämpfte Stadt Bachmut aufgeben müssen.
Soldaten bei Rückzug festgenommen
Bei dem Rückzug gerieten einige ukrainische Soldaten ukrainischen Militärangaben zufolge in russische Gefangenschaft. In der Endphase des Abzugs seien unter dem Druck der weit überlegenen feindlichen Kräfte einige Soldaten gefangen genommen worden, teilt der ukrainische Brigadegeneral Olexander Tarnawskyj über den Kurznachrichtendienst Telegram mit.
Kämpfe lassen am Frontabschnitt vorerst nach
Nach dem Rückzug ukrainischer Truppen aus Awdijiwka haben diese sich nun auf einer neuen zweiten Verteidigungslinie westlich der Industriestadt im Donezker Gebiet festgesetzt. Die Kampfhandlungen waren bis zum Morgen abgeebbt, wie der Militärsprecher für den Frontabschnitt, Dmytro Lychowij, im ukrainischen Fernsehen sagte. Nach dem Höhepunkt der russischen Angriffe am Vortag werde jetzt eine kürzere Ruhepause von russischer Seite erwartet.
Unklar ist dabei, auf welche Linie sich die ukrainischen Truppen zurückgezogen haben. In der Nacht hatte der Kommandeur der Dritten Sturmbrigade, Andrij Bilezkyj, ebenfalls den Rückzug seiner Einheit bestätigt. Diese hatte kurz zuvor noch Bilder ihrer Soldaten aus Bunkeranlagen in der stadtprägenden Kokerei verbreitet. Ob die bisher nicht von einer Einschließung bedrohte Fabrik ebenso aufgegeben wurde, war zunächst unklar.
Mit Informationen von dpa
Karte: Die militärische Lage in der Ukraine
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