Ausgesprochen ernst nimmt Israels Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu die zweitägige Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH). Denn im Friedenspalast in Den Haag, dem Sitz des IGH, geht es ab dem Vormittag um nichts Geringeres als die Frage, ob Israel mit seiner Kriegsführung im Gazastreifen Völkermord an den Palästinensern begeht. Südafrika hat diesen Vorwurf vor dem Internationalen Gerichtshof in einem umfassenden Antrag erhoben.
Worauf bezieht sich Südafrika?
Südafrika beruft sich auf die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen, die im Dezember 1948 vor dem Hintergrund der Shoa von allen Mitgliedern der UN-Generalversammlung verabschiedet und von Israel unterzeichnet worden ist. Die Konvention stammte im Wesentlichen von dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin, einem Holocaust-Überlebenden, dessen Familie bis auf zwei Angehörige von Nazi-Deutschland ermordet worden war. Einstimmig wurde damals, 1948, die "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ beschlossen. Sie sieht unter anderem vor, dass der Internationale Gerichtshof in Sachen Völkermord über Streitfragen entscheidet.
Diesen juristischen Weg hat Südafrika nun eingeschlagen. Und genau aus diesem Grund verteidigt sich Israel jetzt vor dem IGH gegen die äußerst schwerwiegenden Anschuldigungen. Im Gegensatz zum Internationalen Strafgerichtshof, den Israel wie etwa auch die USA nicht anerkennt, werden vor dem Internationalen Gerichtshof Rechtsfragen zwischen zwei Staaten geklärt.
Wie argumentiert Südafrika?
Südafrikas Regierung wirft Israel unter anderem "wahllose Gewaltanwendung und gewaltsame Vertreibung der Bewohner" vor. Die Handlungen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen stellten "Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen" dar. In dem über 80-seitigen Schriftsatz Südafrikas wird ferner behauptet, dass einige dieser Handlungen die grundlegende Definition von Völkermord erfüllten. Da sich Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in der Regel über Jahre hinwegziehen können, hat Südafrika zudem einen Eilantrag gestellt, um möglichst rasch einen Waffenstillstand zu erwirken.
Andernfalls würden die Palästinenser im Gazastreifen "irreparablen Schaden" erleiden. Südafrika fordert den IGH außerdem auf, Israel anzuweisen, den Palästinensern, die aus ihren Häusern im Gazastreifen vertrieben wurden, die Rückkehr zu gestatten. Auch dürfe Israel der Bevölkerung nicht länger Nahrung, Wasser und humanitäre Hilfe verweigern. Israel habe zudem sicherzustellen, dass es nicht zum Völkermord aufrufe und diejenigen bestrafe, die dies täten. Südafrika verfolgt seit dem Ende der Apartheid vor über 30 Jahren einen streng anti-israelischen Kurs in der Außenpolitik.
Warum Südafrika?
Die Erinnerungen an die Rassentrennung durch das weiße Apartheid-Regime, das damals von Israel unterstützt worden ist, prägen seitdem die Haltung führender Regierungsvertreter Südafrikas gegenüber Israel – und weiter Teile der Bevölkerung. Südafrikas Präsident Cyrill Ramaphosa erklärte: "Als ein Volk, das einst die bitteren Früchte von Enteignung, Diskriminierung, Rassismus und staatlich verordneter Gewalt gekostet hat, sind wir klar entschlossen, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen werden.
Nicht verschwiegen wird von Südafrika, durch wen der Krieg ausgelöst worden ist. So heißt es in dem Schriftsatz wörtlich: "Südafrika verurteilt unmissverständlich die Angriffe auf israelische und ausländische Zivilisten durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen sowie die Geiselnahme am 7. Oktober 2023, wie es in seiner Verbalnote an Israel vom 21. Dezember 2023 ausdrücklich festgehalten wurde."
Belastende Aussagen israelischer Politiker und Militärs
Ausführlich beruft sich Südafrika in seinem umfangreichen Schriftsatz auf Aussagen israelischer Politiker und Militärs, mit denen eine Völkermordabsicht belegt werden soll. Dabei werden nicht allein die Äußerungen der rechtsextremen Kabinettsmitglieder Ben-Gvir und Smotrich angeführt, die sich für eine Wiederbesiedlung des Gaza-Streifens und eine "freiwillige Auswanderung" der Palästinenser aussprechen. Es finden sich auch die Aussagen von Verteidigungsminister Yoav Gallant wieder, der nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober angekündigt hatte, dass die Einwohner des Gaza-Streifens keine Lebensmittel, keinen Strom und keinen Treibstoff erhalten würden. "Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln dementsprechend."
Gallant wird mit den Aussagen zitiert, die er gegenüber Soldaten in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober getätigt hat: "Gaza wird nicht mehr so sein wie vorher. Wir werden alles beseitigen." Er habe "jede Beschränkung" für die israelischen Streitkräfte aufgehoben. Ebenfalls werden Erklärungen von Premierminister Benjamin Netanjahu in dem Schriftsatz zitiert, wonach die Soldaten bereit seien, "die blutrünstigen Monster zu besiegen, die sich erhoben haben, um uns zu vernichten". Es gehe um "einen Kampf zwischen den Kindern des Lichts und Kindern der Finsternis, zwischen Menschlichkeit und dem Gesetz des Dschungels".
Israel weist die Anschuldigungen entschieden zurück
Israels Regierungssprecher Eylon Levy machte vor Beginn der zweitägigen Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof deutlich, dass "der Staat Israel vor Gericht erscheinen wird, um die absurde Blutverleumdung Südafrikas zu widerlegen." Denn Pretoria gewähre dem "Vergewaltiger-Regime der Hamas politischen und rechtlichen Schutz." Premierminister Benjamin Netanjahu, der in den vergangenen Tagen und Wochen nicht zu den extremen Aussagen seiner Kabinettsmitglieder und Fraktionskollegen Stellung genommen hatte, sprach sich am Vorabend der Völkermord-Anhörung erstmals öffentlich gegen seine rechtsextremen Verbündeten aus. Diese hatten Israel zur Rückeroberung des Gazastreifens, zur Umsiedlung der Zivilbevölkerung und zur Wiedererrichtung israelischer Siedlungen auffordert.
Netanjahu stellt klar
Auf dem Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter) schrieb Netanjahu, er wolle einige Punkte klarstellen: Israel habe nicht die Absicht, den Gaza-Streifen dauerhaft zu besetzen oder seine Zivilbevölkerung zu vertreiben. "Israel bekämpft die Hamas-Terroristen, nicht die palästinensische Bevölkerung, und wir tun dies in voller Übereinstimmung mit dem Völkerrecht."
Mit Sorge blicken Experten des israelischen Justizministeriums auf die Anhörung in Den Haag. Das Gericht könne Israel anweisen, humanitäre Hilfe im Gaza-Streifen zuzulassen, eine unabhängige Untersuchung durchzuführen oder vertriebenen Palästinensern die Rückkehr in den nördlichen Gaza-Streifen zu gestatten. Wie die israelische Tageszeitung "Ha'aretz" berichtet, seien die Beamten des Justizministeriums der Auffassung, "dass es eine sehr reale Chance gibt, dass der Weltgerichtshof den Forderungen Südafrikas zustimmt und eine Art einstweilige Verfügung gegen Israel erlässt."
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