Die Geschwister Amira und Marius sind in München aufgewachsen. Sie haben einen jordanischen und einen deutschen Elternteil. Die Abstimmung und die Debatte zur Migrationspolitik zuletzt im Bundestag haben sie bestürzt, wie Amira sagt, aber nicht überrascht. Ähnliche Tendenzen habe sie schon in den letzten Jahren deutlich gespürt. "Es ist ein generelles Grundgefühl, das man dann in Deutschland hat. Man hat manchmal Angst in der U-Bahn, wenn man auf eine bestimmte Art und Weise angeguckt wird und man merkt es an Fragen am Arbeitsplatz, die einem gestellt werden."
Gemeinsam mit einer Freundin haben Amira und ihr Bruder im letzten Jahr die Initiative Cleo gegründet – ein unterstützendes Netzwerk für junge Münchnerinnen und Münchner mit Migrationshintergrund. Viele aus ihrem Bekanntenkreis leben hier in der zweiten oder dritten Generation und haben studiert - Marius technische Kommunikation an der Hochschule München. Er ist jetzt selbständig. Amira arbeitet in einem Ministerium und macht ihren Master in Soziologie.
Fachkräfte denken über Auswanderung nach
Die Bundestags-Debatte ist für die beiden der Tiefpunkt einer gesellschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre. Für viele aus ihrem Bekanntenkreis gäbe es eine drastische persönliche Schlussfolgerung: "Ich glaube, jeder von uns spielt mit dem Gedanken, auszuwandern. Das muss man jetzt so hart sagen", sagt Amira. Die meisten hätten schon einmal Angebote aus dem Ausland bekommen.
Das Deutsche Zentrum für Migrations- und Integrationsforschung DeZIM ermittelte im Herbst 2024, dass fast jede vierte befragte Person mit sogenanntem Migrationshintergrund erwägt, Deutschland zu verlassen – und jeder zehnte ohne Migrationshintergrund. Beteiligt an der Studie war der Bielefelder Sozialpsychologe und Konfliktforscher Prof. Andreas Zick. Er sagt, die "Bedrohungslage" müsse immens sein, wenn Menschen, die hier in zweiter oder dritter Generation leben, sich nicht mehr sicher und zu Hause fühlen könnten.
Forscher: Die Stimme junger Menschen wird zu wenig gehört
Gleichzeitig sei der Anteil junger Menschen, die sich populistischen Richtungen zuwenden, deutlich gestiegen. Ein Viertel hält die Demokratie für eine genauso gute oder schlechte Staatsform wie andere Staatsformen. Dabei gebe es Lösungen, mit denen Ängsten junger Menschen, welcher Art auch immer, begegnet werden könne. Die Studien zeigten, dass junge Menschen sich nicht hinreichend repräsentiert sähen und die Politik ihre Lebensrealität nicht im Blick habe, sagt Andreas Zick: "Wenn über Migration gestritten wird zum Beispiel, dann übersehen viele, dass junge Menschen heute in Vielfalt aufwachsen und das nicht ihr wichtigstes Thema ist. Das ist Alltagsrealität und dann können sie kaum nachvollziehen, was da eigentlich besprochen wird."
Vertrauen in Politik stark beschädigt
Gesellschaftliche, politische Teilhabe und Mitgestaltung ist das große Thema von Taylan Yildiz. Der 19-Jährige engagiert sich in verschiedenen Verbänden und studiert in Eichstätt Politik und Gesellschaft. Die Szenen im Bundestag hätten bei ihm einen "Weltschmerz" ausgelöst, wie er es nennt. Seine Gespräche mit anderen zeigten ihm: Friedrich Merz und die Union hätten das Vertrauen in die Politik bei vielen engagierten Menschen aus seinem Umfeld stark beschädigt. "Es gibt halt wirklich viele junge Menschen, die sich politisch engagieren und für Jugendbeteiligung kämpfen und die andere Werte vertreten", sagt Taylan, "und es ist teilweise wirklich sehr demotivierend." Er mache sich Gedanken über seine Zukunft, wie viele in seinem Studiengang, "auch im Hinblick darauf, dass auch immer mehr junge Menschen die AfD wählen."
In der aktuellen Asyl- und Migrationsdebatte käme der Wert, der eine plurale und freie Gesellschaft für alle habe, überhaupt nicht mehr vor. Amira, Marius und Taylan engagieren sich weiterhin für die Rechte und die Teilhabe von allen und wollen, dass sich die Migrationsdebatte wieder dem Thema Integration zuwendet und die Politik andere Themen in den Fokus rückt, wie etwa die Infrastruktur. Taylan wünscht sich dringend wieder eine Debattenkultur, in der alle vorkommen und man einander zuhört – so, wie er es etwa im Jugendparlament lebt.
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