Das "Königreich Deutschland"-Logo auf einem schwarzen Hemd.
Bildrechte: dpa-Bildfunk/Klaus-Dietmar Gabbert

Dem "Königreich Deutschland" gehören nach eigenen Angaben über 6.000 Mitglieder an.

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Wie Reichsbürger ihre Kinder indoktrinieren

Die Reichsbürger-Szene lehnt den Staat und offizielle Dokumente radikal ab. So kommt es, dass Kinder in Deutschland leben, die nicht gemeldet sind. BR-Recherchen zeigen, wie die Extremisten versuchen, die nächste Generation auf Linie zu bringen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Ihre Tochter könne "mega frei" aufwachsen, schwärmt eine Mutter in einem Video auf einer Webseite der Gruppierung "Königreich Deutschland". Denn: Sie habe sie nicht beim Standesamt angemeldet. "Sechs Jahre hat es keinen interessiert, ob sie eine Geburtsurkunde hat oder nicht", sagt sie. Dadurch habe ihre Tochter auch zu keiner Untersuchung gehen müssen. Das sieht die Frau als Vorteil, denn: "Geimpft wird nicht". Die Eltern, die in Thüringen leben, kamen laut Medienberichten auch der Schulpflicht nicht nach, bis Nachbarn Behörden auf die Existenz des Mädchens aufmerksam gemacht haben.

"Königreich Deutschland" – ein Fantasiestaat

Das Bundesamt für Verfassungsschutz bezeichnet das "Königreich Deutschland" als "sektiererische Gemeinschaft", als "Fantasiestaat". Die extremistische Gruppierung zählt laut Verfassungsschutz zu den mitgliederstärksten Gruppierungen in der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene. Nach eigenen Angaben hat das "Königreich Deutschland" derzeit mehr als 6.000 Mitglieder. Aktuell finden nach BR-Recherchen vielerorts Veranstaltungen statt, um neue Anhängerinnen und Anhänger zu rekrutieren. Selbsterklärtes Ziel der Gruppierung ist, alternative staatliche Strukturen zu schaffen – mit eigener Verfassung und eigenem Geldsystem.

Verfassungsschutz Thüringen: Wir dürfen nicht wegschauen

Das Mädchen aus Thüringen ist nach BR-Recherchen nicht das einzige Kind, das unter dem Radar staatlicher Einrichtungen lebte. "Selbst wenn es nur zwei Kinder sind, wäre es für mich ein nennenswertes Problem”, sagt der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes Stephan Kramer im BR-Interview. Konkrete Zahlen könne er nicht nennen, sagt Kramer, aber: In Thüringen seien Reichsbürger-Familien im unteren zweistelligen Bereich bekannt, bei denen die Indoktrination von Kindern eine Rolle spielt. Und das sei nur das Hellfeld, so der Verfassungsschützer. "Das ist etwas, wo wir nicht wegschauen dürfen, sondern wo wir hinschauen müssen", sagt Kramer. Er selbst sei viel in den Kommunen unterwegs und kläre Behörden wie Jugendämter über das Phänomen auf.  

BR-Umfrage zu "Reichsbürger-Familien"

Im Zuge der Recherchen für ein ARD-Radiofeature hat der Bayerische Rundfunk die Landesämter für Verfassungsschutz zum Thema befragt, elf Ämter haben bis Redaktionsschluss geantwortet. Die meisten hatten bereits mit dem Phänomen "Reichsbürger-Familien" zu tun. Dem Landesamt für Verfassungsschutz in Niedersachsen sind Einzelfälle bekannt, in denen sich "Reichsbürger" der Ausstellung von Geburtsdokumenten durch die Standesämter entziehen wollten. Auch der sächsische oder der bayerische Verfassungsschutz gehen davon aus, dass es zu solchen Fällen kommt. Grundsätzlich beobachte die Behörde in Bayern in der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter zurzeit, dass verstärkt Aktivitäten wie Gemeinschaftsausflüge oder leichte Wanderungen angeboten würden, die "familien- und kindertauglich" seien.

Kinder werden früh indoktriniert

Das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg schreibt, Kinder würden bereits früh ideologisch indoktriniert. Der Behörde liegen zum Beispiel Schreiben vor, "die im Namen der Kinder bekannter Milieuangehöriger ausgestellt und teilweise auch von diesen unterzeichnet wurden“. Außerdem versuchen Reichsbürger, die Ausweisdokumente der Kinder wieder abzugeben, schreibt das Landesamt für Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz.

Etliche Verfassungsschutzbehörden berichten von Fällen, in denen Reichsbürger versuchen, ihre Kinder der Schulpflicht zu entziehen. In Hessen beobachtet der Verfassungsschutz Versuche in der Reichsbürger-Szene, alternative Bildungseinrichtungen zu schaffen, "mit Sorge".

Auf Telegram-Kanälen: Werbung für Hausgeburten 

Mit Themen wie "Bildung" oder "Kinder" werben Reichsbürger und Selbstverwalter um neue Anhänger. Nach BR-Recherchen wird in einschlägigen Telegram-Kanälen mit zehntausenden Abonnenten explizit dafür geworben, Kinder staatlichen Institutionen zu entziehen. "Wenn man das Baby durch Hausgeburt bekommt – ALLEIN – und es NICHT auf Standesamt zur Anzeige bringt", heißt es in einem Kanal der reichsbürgernahen QAnon-Verschwörungsideologie, "dann gibt es dieses Kind nicht". Es sei ein freier Mensch.  

"Frei", weil gemäß der Verschwörungsideologie von Teilen der Reichsbürger-Szene die Bundesrepublik Deutschland gar nicht existiert, sondern eine Firma ist. Und mit der Geburtsurkunde zwinge die "Firma BRD" die Menschen in eine Art Vertrag, und damit würden sie alle Rechte abgeben, sagt Verena Fiebig, Wissenschaftlerin am Kompetenzzentrum gegen Extremismus in Baden-Württemberg. Sie forscht zu Reichsbürgern und Selbstverwaltern. "Über dieses Dokument der Geburtsurkunde treten wir aus Sicht der Reichsbürger und Reichsbürgerinnen in den Sklavenstatus ein", so Fiebig. Aus ideologischer Perspektive sei es plausibel, dass Reichsbürger-Eltern versuchen, dieses Dokument für ihre Kinder zu umgehen.

Sind Kinder in der Reichsbürger-Szene gefährdet?

Wenn Kinder systematisch abgeschottet werden – etwa durch alternative Lerngruppen oder Bildungseinrichtungen, sei man aus wissenschaftlicher Perspektive schnell im Bereich der Kindeswohlgefährdung, sagt die Extremismusforscherin. Denn den Kindern würden Bildungschancen verweigert und sie würden isoliert leben.

23.000 Reichsbürger in Deutschland  

Laut Bundesverfassungsschutz gibt es etwa 23.000 Reichsbürger und Selbstverwalter in Deutschland (Stand 2022). Landesbehörden zufolge leben beispielsweise etwa 1.000 von ihnen in Thüringen, ca. 5.400 in Bayern und in Sachsen werden 3.000 Menschen der Szene zugerechnet. Der Resonanzraum der Reichsbürger ist jedoch deutlich größer: Einer repräsentativen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung zufolge zeigen fünf Prozent der Deutschen eine Nähe zu Reichsbürger-Gedankengut. Und Experten sind sich einig: Der Trend geht nach oben.

Digitale Medien als Brandbeschleuniger für Verschwörungstheorien

In sozialen Netzwerken verwischen Experten zufolge die Grenzen zunehmend – Querdenken, rechte Esoterik mischen sich mit Reichsbürger-Gedankengut. Und auch wenn sich die verschwörerischen Theorien teils sehr skurril lesen, steckt dahinter ein ernstzunehmendes Problem: "Wir erleben hier eine neue Dimension", sagt Matthias Pöhlmann, Experte für Sekten- und Weltanschauungsfragen. Die Kleinsten würden nun schon indoktriniert, um ein Gegenmodell zu unserer demokratischen Gesellschaft aufzubauen. "Die soll von innen heraus bekämpft und unterlaufen werden", so der Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern. Das sei eine große Herausforderung.

Beratungsstellen zum Thema Extremismus

Wer nach fachlicher Beratung zum Thema Extremismus sucht, kann sich zum Beispiel bei der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus melden: BIGE - Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus

Auch in Bremen gibt es eine ähnliche Beratungsstelle: Kompetenzzentrum für Deradikalisierung und Extremismusprävention im Land Bremen 

Be­ra­tung ge­gen re­li­gi­ös und po­li­tisch mo­ti­vier­ten Ex­tre­mis­mus aus Baden-Württemberg: Kompetenzzentrum gegen Extremismus in Baden-Württemberg – konex BW.

Hinweise an die Redaktion

Wer Hinweise zum Thema "Kinder in der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene" hat, kann sich per Mail an das Investigativteam des Bayerischen Rundfunks wenden: brrecherche@br.de

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