Was für ein anmaßender, sequel-artiger Roman-Titel: "Zauberberg 2"! Und dann auch noch diese Terminator-artige Typographie auf dem Cover des heute erscheinenden neuen Buchs von Heinz Strunk. Was ist das jetzt: die Zerstörung eines Klassikers oder seine konsequente Weitererzählung in der Gegenwart?
Heinz Strunk: Eine innere Verwandtschaft
"Es versteht sich selbstverständlich als Hommage", antwortet Heinz Strunk im Interview mit dem BR. "Die Idee mit dem 'Zauberberg 2', also diesem literarischen Monument, eine serielle Zwei einfach frech hintanzustellen, die hatte ich vor vielen Jahren schon, und tatsächlich flammte auch gleich die Vorstellung auf, dass ich das in dieser Arnold-Schwarzenegger-Typographie machen wollte." Doch dann sei diese Idee lange Zeit in seiner Ideensammlung liegen geblieben. Erst vor drei Jahren, als er darauf hingewiesen wurde, dass der Zauberberg 2024 sein Hundertjähriges feiert, habe Strunk sich an die Arbeit gemacht und habe sich "in ein Sanatorium begeben, als Selbstzahler, ähnlich wie Thomas Mann das gemacht hat – ich zehn Tage, Thomas Mann drei Wochen – und dann habe ich mit der Arbeit begonnen."
Es ist nach Heinz Strunks Nummer-1-Bestseller "Ein Sommer in Niendorf" 2022, der Manns Novelle "Tod in Venedig" an die deutsche Ostseeküste verlagerte, die zweite Ehrbezeugung des 62-Jährigen gegenüber Thomas Mann. Kein Zufall, so Strunk: "Ich will mal so sagen: Es gibt ein Kapitel, das vorletzte Kapitel meines Buches, das heißt 'Kirgisenträume', das ist eine Montage aus 150 Originalzitaten aus dem Zauberberg. Und da sieht man einerseits, wie sehr sich die Sprache Thomas Manns von meiner unterscheidet, spürt aber eine, wie ich finde, innere Verwandtschaft, und in vielerlei Belangen fühle ich mich Thomas Mann durchaus verwandt, auch in der sehr genauen, manchmal auch etwas ätzenden Beschreibung seines Personals, seiner Figuren."
Timon Karl Kaleyta: Im kulturellen Bewusstsein
Heinz Strunks tragikomische Groteske "Zauberberg 2" spielt im sumpfigen Flachland Mecklenburg-Vorpommerns. Sein Schriftsteller-Kollege Timon Karl Kaleyta wiederum lässt seinen im Frühjahr bereits erschienenen hochgelobten Roman "Heilung" so wie den "Zauberberg" in den Alpen spielen, in einem Sanatorium. Mit seinem Schnee-Kapitel und vielen Anspielungen an Thomas Manns Monumentalroman ist auch dieses Buch als Verbeugung vor Mann gelesen worden. Der 44-jährige Autor aber beteuert, Manns Buch bis dato gar nicht zu kennen.
"Ich habe dazu jetzt mittlerweile eine eigene These", erzählt Karl Kaleyta. "Diese 100 Jahre Zauberberg, die jetzt in der Welt sind, die haben diese Art von Genre so dermaßen geprägt und sind so tief in das kulturelle Bewusstsein eingedrungen, dass man, wenn man Filme geschaut hat, die in einem solchen Setting gespielt haben – ein Hotel in den Bergen vielleicht, eine Patienten-Arzt-Beziehung –, die sind alle so durchzogen von dem, was im Zauberberg steht, dass man das alles schon auf der Festplatte hat." Man könne gar nichts mehr schreiben in einem solchen Setting, das dann nicht in irgendeiner Weise vom Zauberberg geklaut ist, sagt der Autor lachend.
Norman Ohler: Literarische Vorbilder
Neben Timon Karl Kaleyta und Heinz Strunk ist der Berliner Norman Ohler der Dritte im Bunde jener Autoren, die hundert Jahre danach den "Zauberberg" einer erhellenden Neubetrachtung unterziehen. Sein Buch "Der Zauberberg, die ganze Geschichte" lohnt die Lektüre vor allem deshalb, weil er darin unter anderem der kaum bekannten Tatsache nachgeht, dass schon 1917 der Schriftsteller Klabund mit "Die Krankheit" eine Erzählung veröffentlichte, die so wie der Zauberberg in einem Davoser Sanatorium für Schwindsüchtige spielt. Auch eine schöne Russin taucht darin auf, und eine Walpurgisnacht-Szene. Was die Frage nahelegt, ob das den späteren Nobelpreisträger Thomas Mann womöglich auf eine Idee gebracht haben könnte.
Heute vor 100 Jahren, am 28.11.1924 erschien "Der Zauberberg" von Thomas Mann bei S. Fischer.
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