Während die staatlich gelenkten Medien in Russland Putins Politik schon lange nicht mehr kritisieren dürfen, finden sich in den populären Telegram-Kanälen durchaus freimütige, oft sarkastische Bemerkungen zum Kriegsverlauf. Das ist dem Kreml offenbar ein Dorn im Auge.
Das russische Parlament verabschiedete ein Gesetz, wonach sich alle Blogger mit mehr als 10.000 regelmäßigen Lesern ab 1. November zur "Verifizierung" mit ihren Klarnamen in ein Register bei der Zensurbehörde eingetragen lassen müssen.
Es soll ihnen untersagt werden, "verbotene Informationen" zu verbreiten, außerdem dürfen nicht registrierte Blogger keine bezahlte Werbung mehr schalten. Putin-Bewunderer Sergej Markow sprach von einer "Telegram-Revolution". Die Reaktionen sind gereizt, immerhin haben manche Kriegsblogger mehr als eine Million Nutzer.
"Zensierte Medien wurden uninteressant"
"Auf die eine oder andere Weise ist es den Behörden wichtig, die bedeutsamste kostenlose Plattform für politische Diskussionen – Telegram – unter ihre Kontrolle zu bringen", heißt es dazu im russischen Nachrichtenportal "Brief" mit 564.000 Lesern.
Putin habe zuerst das Fernsehen, dann das Radio und die Zeitungen an die Kandare genommen, schließlich die Online-Redaktionen: "Überall war das Ergebnis dasselbe. Die Medien, die der Zensur unterlagen, wurden uninteressant und verdorrten, als würde das Leben aus ihnen weichen." Viele Journalisten seien ins Netz abgewandert, wo sie jetzt ebenfalls als "ausländische Agenten" schikaniert würden.
"Wer wird mehr gelesen?"
"Der Begriff 'Register' riecht nach dem Beamtentum des 19. Jahrhunderts, mit lauter muffigen Bürokraten, die in einem großen Buch mit schiefer Handschrift jeden aufschreiben, der sich als 'unzuverlässig' erweisen könnte", so ein baschkirischer Kritiker mit 26.000 Fans: "Man kann sich nichts Dümmeres vorstellen als die aktuelle Initiative der Abgeordneten der Staatsduma – höchstwahrscheinlich wird dafür ein spezielles Gremium geschaffen, das aus dem Haushalt finanziert wird und spezielle Anweisungen erteilt, was noch möglich ist und was nicht."
Mutmaßlich wählten viele weitere erfolgreiche Blogger das Exil: "Das russischsprachige Segment von Telegram wird in zwei Teile gespalten – registriert und nicht registriert. Wer wird Ihrer Meinung nach mehr gelesen?"
Der rechtsradikale Blogger Igor Skurlatow (402.000 Fans) wetterte, es sei immer einfacher, etwas zu verbieten, als eine "wohlüberlegte Entscheidung" zu treffen. Gegen Netz-Zensur an sich hat Skurlatow nichts einzuwenden, wohl aber gegen das jüngste Gesetz, dass russischen Soldaten im Kampfeinsatz Handys verbietet: "Ich habe kürzlich mit Kämpfern gesprochen – sie sagten mir direkt ins Gesicht, dass sie jeden erschießen würden, der versucht, ihnen ihr Mobiltelefon wegzunehmen."
"Spieglein an der Wand"
Beobachter wie Politologe Ilja Graschtschenkow vermuteten, dass viele Blogger jetzt aus Angst vor dem Verlust von Werbeeinnahmen "strengste Selbstzensur" übten. Politologe Georgi Bovt schrieb: "Der Trend ist offensichtlich. In der Regel gilt die Devise: Je komplexer, widersprüchlicher und mehrdeutiger die Situation im wirklichen Leben ist, was mitunter nicht so einfach zu ändern ist, desto größer ist die Versuchung, die Realität zumindest virtuell zu korrigieren."
Bovt verwies ironisch auf Puschkin, bei dem sich eine Variante der berühmten Schneewittchen-Szene vom "Spieglein an der Wand" findet - wohl ein Hinweis auf die narzisstischen Bedürfnisse des Kremls, der überall nur noch seine eigene Propaganda gespiegelt haben will.
Telegram-Autoren rechtlich mit Journalisten gleichgestellt
Der kremltreue Blogger Oleg Sarew (312.000 Fans) zeigte sich gespannt auf die "Liste von Informationen", die er jetzt im Auftrag der Behörden verbreiten solle. Es sei noch "unklar", wie er und seine Kollegen reagieren würden. Militärkommentator Roman Aljechin (136.000 Abonnenten) kritisierte, dass Blogger neuerdings rechtlich mit Journalisten gleichgestellt würden, was die Zensur angehe. Allerdings bekämen Telegram-Autoren im Gegenzug nicht die Privilegien der Presse eingeräumt, wie Quellenschutz und Auskunftspflicht der Behörden: "Das wäre fair!"
Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" spotteten, die Russen müssten allmählich lernen, "von Geburt an in den Partisanenkampf gegen die Regierung" einzutreten. Vermutlich werde mancher Blogger seine Zählmarke einfach bei 9.990 anhalten, um nicht unter das neue Gesetz zu fallen: "Im Wald herrscht zwar derzeit Stille, aber die Duma schläft trotzdem nicht."
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