"Es ist alles noch sehr wackelig. Wenn man berücksichtigt, dass sowohl Kiew als auch der Kreml ihre jeweils eigenen Gründe haben, die Kämpfe fortzusetzen, dann ist noch nichts vorherbestimmt", so der russische Blogger Anatoli Nesmijan (121.000 Fans) über die derzeitigen Friedensaussichten im Ukrainekonflikt. Ein möglicher Waffenstillstand erinnerte ihn sehr an das berüchtigte "Münchner Abkommen" von 1938. Damals knickten die Westmächte Frankreich und Großbritannien vor Hitlers territorialen Ansprüchen ein und machten den Weg frei für die Aufteilung der damaligen Tschechoslowakei.
"Umsetzungschancen gleich null"
"Europa will wirklich nicht kämpfen. Es ist einfach nicht dazu bereit", so der Blogger: "Daher ist eine Fortsetzung des russisch-ukrainischen Konflikts zwar eigentlich schlecht für die Europäer, stellt jedoch immer noch eine viel bessere Entwicklung dar als die, in die die Amerikaner sie hineinzerren wollen [nämlich deutlich mehr für die Verteidigung auszugeben]." Im Übrigen könne auch China derzeit kein Interesse daran haben, dass sich die USA aus dem Konflikt zurückzögen, weil Trump dann umso mehr freie Hand im pazifischen Raum hätte.
Ähnlich pessimistisch bleibt Strategie-Experte Wladimir Inosemtsew, der auch in westlichen Medien veröffentlicht. Trumps "Abenteuerlust" verringere die Wahrscheinlichkeit eines Abkommens erheblich. Es gebe "keine große Chance" für eine Einigung noch in diesem Jahr. Trump und Putin würden allenfalls eine Vereinbarung vorlegen, die aus Sicht der übrigen westlichen Staaten wie eine "demütigende Niederlage" aussehen werde.
Die Umsetzungschancen seien "gleich null", da die Europäer auch ohne die USA die Ukraine weiter unterstützen würden: "Deshalb finde ich es lächerlich, dass der Kreml schon beginnt, ein musikalisches Repertoire für ein 'Siegeskonzert' zusammenzustellen und quasi Einladungen dazu verschickt."
"Es wird zumindest interessant"
Inosemtsew argumentiert, Trump drohe ein zweites Afghanistan, also ein Rückzug unter beschämenden Umständen, und Putin werde den Großteil seines wegen der Sanktionen dezimierten Staatshaushalts viele Jahre lang für den Wiederaufbau zerstörter Gebiete aufbringen müssen. Fast wortgleich schreibt Dmitri Drise, Kolumnist des Wirtschaftsblatts "Kommersant": "Es kann durchaus sein, dass nichts bei den Gesprächen herauskommt, aber es wird zumindest interessant."
Sogar Kreml-Propagandist Sergei Markow rechnet nicht mit einem "Durchbruch" bei den Verhandlungen. Obendrein zeigte er sich besorgt über die "Verlangsamung" des russischen Vormarschs, für die offiziell keine Gründe genannt würden.
BR24
Politologe Andrei Nikulin wunderte sich, dass manche Beobachter vor lauter Trump-Euphorie übersähen, was Joe Biden daran gehindert habe, einen Waffenstillstand zu erreichen: "Die Unmöglichkeit, territoriale Annexionen [Russlands] zu legalisieren, insbesondere solche, die mit Gewalt erreicht wurden, das Fehlen von Garantien, dass der Konflikt nicht zu einem für Moskau günstigen Zeitpunkt wieder aufflammt, die Unmöglichkeit, separate Abkommen mit Moskau unter Umgehung der europäischen Verbündeten und Kiews abzuschließen." Offenbar wolle Trump die Waffenlieferungen an die Ukraine gar nicht reduzieren, sondern nur die Europäer dafür zahlen lassen.
"Nicht zwischen Gespenstern herumirren"
Putin könne sich derzeit kaum Vorteile ausrechnen, heißt es bei einem weiteren tonangebenden Blogger mit 153.000 Fans: "Bisher gibt es keine Aussicht auf Frieden zu Moskaus Bedingungen. Wenn die Ukraine Sicherheitsgarantien erhält und endlich im Westen Fuß fasst, wäre das für Russland eine strategische Niederlage und würde alles zunichte machen, wofür [von Putin] eine neue Weltordnung angestrebt wird."
Politologe Ilja Graschtschenkow wagte darauf hinzuweisen, dass Putin Russland erst mal im Sinne des Westens "normalisieren" müsse, wenn er ein dauerhaftes Abkommen wolle. Damit meint der Blogger faire Wahlen und einen zivilen Umgang mit Dissidenten: "Wenn die russische Außenpolitik mehr will, zum Beispiel eine wirkliche Neuaufteilung der Welt und ihre 'Multipolarität', dann wird es unvermeidlich sein, dass wir zu den Ursprüngen der russischen Staatlichkeit zurückkehren, die 1991 gelegt wurden, und aufhören, zwischen den Gespenstern des Russischen Zarenreiches und der Sowjetunion hin und her zu irren."
Dass Moskau und Washington ausgerechnet im saudi-arabischen Riad miteinander reden, hält einer der russischen Beobachter angesichts des dortigen Öl-Reichtums im Kontrast zur Armut der Russen für blamabel: "Generell dürfte es schwierig sein, einen symbolträchtigeren Ort für Russlands 'Friedensbestrebungen' zu finden. Das passiert, wenn gierige Gauner die Herrschaft an sich reißen und zu gelangweilten, bewegungsunfähigen Gerontokratien werden."
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