Sofort entwickelt der Film einen visuellen Sog: endlose Steppen, im Hintergrund bläulich schimmernde Berge. Feuerland. Ganz im Süden Chiles. Ein einsamer Reiter bewegt sich, aus großer Entfernung gefilmt, durch die Landschaft. Lange Schatten. Die Sonne steht tief. Schafe werden über die Ebene getrieben. Weideland. Ein paar indigene Männer errichten Gatter, im Auftrag des Viehbarons José Menéndez. Ein Arbeiter spannt mit einer Ratsche den dicken Eisendraht, der einem Zaun Stabilität verleihen soll. Er macht eine Umdrehung zu viel, der Strang reißt, schnalzt zurück und trennt einem der Männer den Unterarm ab. Vom Vorarbeiter wird der sofort erschossen, denn was taugt in dieser rauen Gegend schon ein Gehilfe mit nur einer Hand.
Weite Landschaften, verwegene Reiter
"Colonos" ist ein Western aus Chile. Gedreht wurde er – als optische Reminiszenz an die klassischen US-Western – im Normalformat. Cinemascope kam erst später. Das atmet Freiheit. Regisseur Felipe Gálvez Haberle und seinem fantastischen Kameramann Simone D’Arcangelo ging es aber in den weiten Landschaften Feuerlands um moralische Enge, um willkürliche Grenzziehungen, um (auch im übertragenen Sinn) Begrenzung und Ausschluss. Deshalb das Normalformat.
Ein Trupp von drei Männern wird beauftragt, einen sicheren Schafs-Trail von Chile durch das Gebiet Argentiniens bis an den Atlantik auszukundschaften. Alexander MacLennan, ein Schotte, ehedem Gefreiter der englischen Marine, der sich jetzt als Leutnant ausgibt, führt die Truppe an. Mit ihm reiten der Mestize Segundo, der gut schießen kann, und Bill, ein einfacher Cowboy aus Texas, der sich im Kampf gegen die Ureinwohner Nordamerikas schon als skrupellos erwiesen hat.
Western-typische Szenen und Klischees
Getrieben vom perkussiven Soundtrack des Franzosen Harry Allouche erzählt "Colonos" von Landnahme und Erschießungen. Weil die indigenen Nomaden vom Volk der Selk'nam die Großgrundbesitzer-Schafe, genannt das weiße Gold, als Allgemeingut betrachten und für die eigene Vorratshaltung jagen, werden sie von Bill und MacLennan kaltblütig abgeknallt.
"Colonos" handelt von der gnadenlosen Kolonisierung Chiles und Feuerlands um 1900. Im Land selbst ist das bis heute nicht aufgearbeitet worden. Ein politisches und gesellschaftliches Tabu. Der ursprünglich aus Nordspanien stammende Großgrundbesitzer und sich selbst als Wohltäter gerierende echte José Menéndez wird nach wie vor als richtungsweisender Pionier und König von Patagonien angesehen, und nach dem brutalen schottischen Söldner Alexander MacLennan sind immer noch Straßen benannt. Beide befahlen oder verübten Menschenjagden auf die Völker der Ureinwohner. Für abgeschnittene Ohren der ermordeten Selk'nam wurden Prämien gezahlt.
Der Genozid an den indigenen Selk'nam
In langen, intensiven Einstellungen berichtet Felipe Gálvez Haberle von den Vorgängen vor rund 120 Jahren. Im Epilog tritt noch eine von dem realen Richter Waldo Seguel inspirierte Figur auf – ein vom damaligen Präsidenten Pedro Montt beauftragter Beamter, der die Massenmorde im Nachgang untersuchen und die Ureinwohner befrieden sollte. Dass auch er die Kolonisierung fortsetzte, nur ohne Blutvergießen, sondern mit milde vorgebrachten Floskeln eines nationalen Gehorsams, macht der Film in der letzten Szene unmissverständlich deutlich. Der Sog der Bilder endet so in der Anklage von Barbarei, Unmenschlichkeit und Unterdrückung. Gálvez Haberle ist ein visuell aufregender, klug rhythmisierter und politisch aufrüttelnder Neo-Western gelungen, den Chile dann immerhin als Oscarbeitrag für den besten fremdsprachigen Film einreichte.
Colonos - Chile, Argentinien, Großbritannien, Taiwan, Deutschland, Schweden, Frankreich, Dänemark 2023. 97 Minuten. Regie: Felipe Gálvez Haberle. Mit Mark Stanley, Alfredo Castro, Benjamin Westfall. FSK 16
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