"Ich wurde unter einem Tisch geboren." Ein außergewöhnlicher erster Satz, der ein außergewöhnliches Buch einleitet: der Startschuss für die Beschreibung einer vergangenen Welt, und gemeint ist nicht die leibliche Geburt, sondern die erste Erinnerung der Ich-Erzählerin Dolores Prato:
Ich saß auf den Fliesen. Hart gewordene Brotkrumen bohrten sich mir in die Haut wie Kiesel. Dieses erste Stückchen Welt, das mein Gedächtnis gespeichert hat, sehe ich vor mir, so wie ich jetzt meine schreibende Hand sehe. (Zitat aus: "Unten auf der Piazza ist niemand")
Eine Kindheit in Italien im frühen 20. Jahrhundert
Was folgt, ist die Beschreibung einer Kindheit im Italien des frühen 20. Jahrhunderts. Es ist die Lebensgeschichte der Autorin selbst, Dolores Prato, geboren 1892. Die eigene Mutter hat das uneheliche Kind mit wenigen Monaten weggegeben, Prato wächst bei einem Onkel und einer Tante auf, in der kleinen Stadt Treja in den Marken. Für die gesellschaftlichen Verfehlungen der Mutter machen die Dorfbewohner das Kind verantwortlich, kaum jemand spricht mit ihr. Sie bleibt eine ewig Außenstehende. Doch kein Jammern, kein Selbstmitleid kommt aus ihrem Mund, stattdessen entwickelt sie eine gewisse Härte gegenüber sich selbst.
Die Einsamkeit macht sie zur Beobachterin
Fast immer ist die kleine Dolores allein, spricht nicht, kommt kaum aus dem Haus. Die Einsamkeit macht sie zur Beobachterin. Prato ist 80, als sie das Buch schreibt, ihr Erinnerungsvermögen immens. Sie beschreibt wahrlich alles, Spiele, Krankheiten, Blumen, Berufe, Kleidung, Gerüche und Geräusche: das leise Knacken, wenn die Nadel beim Sticken den straff gespannten Stoff durchbricht. Der grün gestrichene Brotkasten, dessen Klappe für manch widerspenstiges Huhn zum Schafott wird. Die Parade der Hausbewohner, die nachts mit Blendlaternen durch die Zimmer ziehen, um das Ungeziefer zu vertreiben.
Das alles formuliert die Erzählerin in einer Ausführlichkeit und sprachlichen Opulenz, die auch die Übersetzerin Anna Leube nie zuvor begegnet sind, erzählt sie: "Es ist unglaublich, ich kenne keinen Autor, wo es diesen Reichtum gibt, diese Fülle an Details jeglicher Art. Dann kommen noch die Sprichwörter dazu, die Redensarten, die frommen Rituale, ich kann es nur immer wieder wiederholen: Ich kenne kein einziges Buch, das mit dem vergleichbar ist."
Die Welt als Ansammlung von Wundern
Der Stil ist mal mäandernd, mal sprunghaft, aber immer nah an der gesprochenen Sprache. Prato spielt mit Assoziationen und dem Klang der Wörter, sinniert über Namen, Redewendungen, Ausspracheeigenarten einzelner Stadtbewohner. Das alles floskelfrei, voller origineller, frischer, sprechender Vergleiche: Der kleine Mann, der so ausgemergelt ist, als hätte man ihn zum Dörren zwischen die Seiten eines Buchs gelegt. Ein Bergkristall, ganz "durchsichtiger Glanz", aus einer Welt kommend, "die keiner sieht".
Die kleine Dolores betrachtet die Welt als Ansammlung von Wundern. "Es gibt Dinge, da geht mir das Herz auf", erzählt Übersetzerin Anna Leube, "wenn sie beschreibt, wie ein besonders tolles Leinentischtuch auf den Tisch gelegt wird und sie beschreibt das Wogen des Tischtuchs, bevor es sich auf den Tisch setzt oder wie ein Stoffballen auf den Ladentisch gelegt wird und was das für ein schmatzendes, sattes Geräusch macht und aus diesen Beobachtungen besteht im Grunde das Buch."
Die Tante ist kühl, kann kaum Emotionen zeigen. Manchmal legt Dolores ihre Hände auf den noch lauwarmen Herd: die Wärme, die er ausstrahlt, nennt sie "menschlich". Der Onkel – ein Priester – hingegen ist gutmütig und fröhlich, ein Universalgelehrter, ebenso gebildet wie handwerklich geschickt, zeigt er ihr, wie man die Münzen aus dem Schlitz der Sparbüchse herausbekommt, ohne sie zu zerschlagen. Eine Vaterfigur, wie man sie sich nur wünschen kann. Es gehört zu den großen Geheimnissen des Buches, warum ihre Beziehung trotzdem so distanziert bleibt.
Ein Fest der Sprache – aber nichts für jedermann
Einen echten Plot hat das Buch nicht. Dolores Prato deutet an, dass die Familie mehr und mehr verarmt, der Onkel wandert nach Argentinien aus, sie selbst kommt an ein Internat. Viel mehr passiert nicht. "Unten auf der Piazza ist niemand" ist eine Momentaufnahme, mehr Bild einer Zeit als Erzählung. Vor allem ist dieses Buch – auch in der Übersetzung von Anna Leube – ein Fest der Sprache.
Natürlich sind 900 Seiten handlungsfreie Weltbeschreibung nichts für jedermann. Wer sich gern auf eine andere Zeit, und auch auf eine andere Geschwindigkeit einlässt, den wird die dichte Atmosphäre sanft durch den Text tragen und ihn an diesem Wunder namens Literatur teilhaben lassen – denn es ist nichts weniger als ein Wunder, wie Dolores Prato hier mit kaum zwei Dutzend schwarzen Buchstaben eine fremde und verlorene Welt spürbar macht.
Am Dienstag, 22. Oktober, ist die Übersetzerin Anna Leube zu Gast im Literaturhaus München (externer Link), im Gespräch mit Manuela Reichart. Annette Paulmann von den Münchner Kammerspielen liest Passagen aus dem Buch.
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