Drinnen ist es eine Lesung, fast wie jede andere. Zwei Menschen mit Mikrophonen, die Geschichten vortragen, zugegeben beide nicht ganz alltäglich gekleidet. Aber ansonsten? Das Übliche: Tischchen mit den obligatorischen Wassergläsern. Im Hintergrund Projektionen aus Bilderbüchern. Kinder, die lauschend auf Weichbodenmatten lümmeln.
Lesung mit Polizeischutz
Draußen dagegen: Polizeiaufgebot und zusätzlich ein Sicherheitsdienst, der am Eingang zum Ingolstädter Jugendzentrum Fronte 79 die Taschen kontrolliert. Auf dem Parkplatz haben sich rund 50 Menschen versammelt, die Schilder hochhalten mit Parolen wie "Finger weg von unseren Kindern" oder "Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde". Eine Demonstrantin schimpft: "Die Frühsexualisierung der Kinder, alles ist möglich, Jungs sollen Mädchenkleider tragen… Hörns ma‘ auf!"
Der Gruppe der Empörten stehen etwa doppelt so viele Menschen gegenüber, die sich schützend vor die Veranstaltung stellen, ebenfalls mit Pappschildern. "Wer immer nur schwarz-weiß denkt, wird nie den Regenbogen sehen" steht auf einem.
Kinder beschimpft und verängstigt
Auch einige Ensemble-Mitglieder des Stadttheaters Ingolstadt sind da. Schauspielerin Victoria Voss zum Beispiel. Sie findet diesen Affront gegen Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit und "diese Diskriminierung erschütternd. Und sogar ein Kind in meiner Anwesenheit wurde beschimpft. Also das zum Thema Kinderschutz, was sie sich auf die Fahnen schreiben – sie haben dieses Kind beschimpft!"
Ein Familienvater berichtet, seine Tochter finde das ein bisschen beängstigend. Sie klammere sich an sein Bein, weil da so viel los sei. Aber er schaut nach vorn und betont: "Wir freuen uns jetzt einfach auf die Lesung." Die Geschichten, die Dragqueen Vicky Voyage und Dragking Erik dann drinnen vorlesen, handeln von Jungs, die gern Röcke tragen; von Prinzessinnen, die keine Lust haben, Frösche zu küssen, um einen Märchenprinzen abzubekommen; oder eben von schwulen Kaninchen. Aber Frühsexualisierung? Fehlanzeige. Ja, es geht schon auch – aber beileibe nicht ausschließlich – um queere Themen, aber nie so, dass man das Gefühl haben müsste, hier würde Kindern irgendetwas von oben herab eingetrichtert. Vicky Voyage und Dragking Erik begegnen den Kindern auf Augenhöhe, mit Witz und Charme.
Im Kindergarten war die Puppenecke für ihn verpönt
Sein Anliegen bei solchen Lesungen sei es, den Kindern zu zeigen, dass sie so sein dürfen, wie sie sind, sagt Vicky Voyage. Das habe ihm einfach in seiner Kindheit gefehlt. "Und auch im Kindergarten habe ich gehört, wenn Du in der Puppenecke spielst, dann bist du kein echter Junge. Und mir, uns ist es extrem wichtig zu zeigen, auch wenn ihr in der Puppenecke spielen wollt, auch wenn ihr einen roten Rock anziehen wollt, dann macht das einfach. Es sollte euch niemand dafür verurteilen. Seid frei, wie ihr seid, und lasst euch nicht einschränken in der Hinsicht."
Vicky Voyage selbst trägt bei dieser Lesung keinen Rock, sondern einen pink-schillernden Anzug, dazu glitzernde High-Heels. Dragking Erik wiederum erinnert mit Krone auf dem Kopf und Plüschfuchsstola um die Schultern ein bisschen an den bayerischen Märchenkönig Ludwig. Der Ausdruck durch Kleidung oder dadurch, dass man darüber spricht, dass es auch noch andere Lebensrealitäten gibt, sei nichts, was einem aufgezwängt werde, sagt Erik. "So was existiert einfach. Wir müssen natürlich in so einem Moment wegschieben, dass es auch andere Stimmen gibt und Menschen, die ein anderes Bild von uns haben. Aber was sollen wir denn machen? Solche Menschen wird es immer geben. Und wir fokussieren uns auf die Schönheit, die Diversität und die Buntheit des Lebens."
Engert: Kein Verständnis für Kulturkampf
Ein Plädoyer für Toleranz, Offenheit und: Diversität, die den Gegendemonstranten draußen auf dem Parkplatz offenkundig zu viel der Vielfalt ist. Vor dem Ingolstädter Jugendzentrum Fronte 79 steht auch Kulturreferent Gabriel Engert, Mitglied der CSU. Deren Generalsekretär Martin Huber hatte über die Münchner Lesung von Vicky Voyage und Erik im letzten Sommer auf X, vormals Twitter, geschrieben – Zitat – Vierjährige sollten nicht mit woker Frühsexualisierung indoktriniert werden. Engert teilt Hubers Einstellung nicht, erklärt aber in Ingolstadt: "Man kann ja immer unterschiedlicher Meinung sein. Das ist völlig in Ordnung. Hier gibt es eine Veranstaltung, die niemand besuchen muss. Und wenn man anderer Meinung ist, dann kann man die artikulieren, dafür leben wir in einer Demokratie. Aber was da an Vorstellungen, wie eine Gesellschaft strukturiert sein muss, geäußert wird, das ist halt das Bedenkliche."
Eigentlich, sagt Engert dann noch, sei das doch eine harmlose Lesung. Für den Kulturkampf, die deren Gegner anzetteln, fehle ihm jegliches Verständnis. Und die, um die es eigentlich geht, die Kinder drinnen im Saal? Die scheinen den Spießrutenlauf draußen vor der Vorstellung schnell vergessen zu haben. Ein Mädchen sagt: "Die Kostüme haben mir gut gefallen, und es waren auch die Bilder schön gemalt." Und der Junge neben mir ist einfach froh, dass sie Bücher vorlesen.
Vicky Voyage und King Erik – für die Kinder sind das einfach nur zwei Menschen in bunten Kostümen, die ihnen spannende Geschichten vorlesen. Eine ganz normale Lesung halt.
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