"Während die endlich aufgewachten westlichen 'Adler' ihre Flügel spreizen und ihre Krallen schärfen, verwandeln sich unsere einheimischen 'Falken' schnell in furchtsame Kanarienvögel. Doch ihre Friedensgesänge werden niemanden mehr interessieren. Die Bedingungen für die Beendigung des Krieges werden allein von den Adlern bestimmt. Nicht umsonst heißt es: Weckt keine schlafenden Hunde", schreibt einer der populärsten russischen Polit-Blogger mit 165.000 Fans über die aktuelle Stimmungslage unter Putins "Ultra-Patrioten" [externer Link]
"Nur Scholz hatte Angst vor uns"
Unmittelbarer Anlass dafür sind merkwürdig verzagte Botschaften auf den Telegram-Kanälen von einst aggressiven Parteigängern des Kremls. Sie wollten sogar einen "Anflug von Panik" in der Regierung beobachtet haben, weil russisches Territorium neuerdings von aus dem Westen gelieferten Waffen bedroht sei [externer Link]. Mit dem Kleinreden dieser Gefahr seien Putins Leute völlig überfordert. Die übliche Drohung mit dem Atomarsenal fruchte anscheinend ebenso wenig wie die Propaganda, wonach "alle" westlichen Projektile abgeschossen würden: "Schon bisher hatte niemand Angst vor uns, außer vielleicht Scholz. Jetzt kommen aus den westlichen Ländern ganz offiziell nacheinander die Genehmigungen zum Angriff auf die 'alten' russischen Gebiete."
Der ehemalige Chef der russischen Weltraumbehörde und jetzige Beauftragte für die von Russland besetzten ukrainischen Gebiete, Dmitri Rogosin, bedauerte, dass der kremlfreundliche ungarische Ministerpräsident Viktor Orban den "Zug mit den Brüsseler Lokführern" leider nicht aufhalten könne. Im Übrigen liefere die russische Rüstungsindustrie "große Mengen veralteter Waffen". Rogosin plädierte für "viele kleine, flinke Privatunternehmen", der Staat solle sich wegen seiner Schwerfälligkeit stattdessen auf Zulieferungs-Komponenten beschränken.
"Es ist anzumerken, dass unsere Offensive in der Region Charkow bereits ins Stocken geraten ist und die ganze Idee, eine Art Pufferzone zu schaffen, sich in eine Farce verwandelt", so eine düstere russische Prognose: "Stattdessen werden die Ukrainer dank der Aufhebung der Beschränkungen [des Westens] für Angriffe auf Russland bald damit beginnen, eine solche Pufferzone in den russischen Grenzregionen zu schaffen."
"Fehlen konstruktiver Kritik"
Blogger Dmitri Sewrjukow bedauerte, dass der "befreundete Teil der internationalen Geschäftswelt" zwar Putins Vorstellungen von einer "multipolaren Architektur" der Welt teile, sich ungeachtet dessen in Schlüsselfragen aber "immer noch mit dem Westen unter der Führung der Vereinigten Staaten" abspreche [externer Link]: "Es ist nicht einfach, diesen Trend umzukehren, und selbst das mächtige China zeigt in verschiedenen Bereichen der Zusammenarbeit Vorsicht, ganz zu schweigen von vielen anderen Ländern, die zwar ihre Delegationen zur kommenden Weltwirtschaftskonferenz in St. Petersburg entsenden, aber umsichtig und gemächlich agieren. Es ist bekannt, dass Steine durch Wasser abgeschliffen werden, allerdings geht dieser Prozess nicht sehr schnell vonstatten."
Sogar der einstige Frontkämpfer und Star-Kolumnist Alexander Chodakowski (530.000 Fans) meinte zerknirscht, jede Art von Kritik werde vom Kreml leider inzwischen als "gefährliches Phänomen" eingestuft: "Ganz generell wirkt sich das Fehlen von konstruktiver Kritik negativ auf die Prozesse im Land aus, da dadurch viele gut gemeinte Initiativen umgesetzt werden könnten."
"Aus der Position des Frosches herauskommen"
Mit Bitterkeit wurde eine Meldung der britischen "Financial Times" kommentiert [externer Link], wonach China zwar bereit sei, kleinere Gas-Mengen aus Sibirien abzunehmen, aber nur zum hoch subventionierten russischen Inlandspreis, was für Putin ein desaströses Zuschussgeschäft wäre. Kremlsprecher Dmitri Peskow machte sich selbst Mut und sagte, die Verhandlungen würden trotzdem fortgesetzt, "weil der politische Wille dazu vorhanden" sei. Ein Spaßvogel machte den Vorschlag, Putin könne ja einfach die innerrussischen Gaspreise auf das Weltmarktniveau erhöhen, um seine Verhandlungsposition gegenüber China zu "stärken".
Exil-Politologe Anatoli Nesmijan nannte es den "Gipfel der Naivität", dass der Kreml den lukrativen europäischen Gasmarkt opferte und ernsthaft davon ausgegangen sei, ersatzweise "Schokoladen-Konditionen" von China angeboten zu bekommen. Dort sei Putin vielmehr "Bittsteller", Peking könne nur profitieren, egal, ob Russland seine Förderkapazität drosseln oder auf Dumping-Preise eingehen müsse. Die Fähigkeit Moskaus, sich in der Welt Feinde zu machen, sei "phänomenal": "Und das ohne den geringsten Nutzen."
Dass der Kreml die Steuern erhöhen musste, um den Krieg zu finanzieren, drückt ebenfalls auf die allgemeine Stimmung: "Wir werden dem Generalstab keine Ratschläge geben, wie er sich verhalten soll, aber wir müssen so schnell wie möglich aus der Position eines Frosches herauskommen, der nach und nach gekocht wird", so der Militärexperte Roman Aljechin (131.000 Fans).
"Faul, schläfrig, fett, aber Adler"
Zur ausgesprochen gedämpften Atmosphäre in Moskau hieß es von einem der russischen Kommentatoren bemerkenswert despektierlich: "Jetzt haben sie Angst. Niemand will mit ihnen reden. Nicht mal über strategische Stabilität, wie es Wladimir Putin kürzlich ausdrückte. Und das trotz aller nuklearen Drohungen, und der einzige Zweck dieser Drohungen besteht darin, einen normalen Dialog mit dem Westen in Gang zu bringen."
Offenbar sei der Kreml jetzt ratlos. Putin setze auf Sturheit, halte sich aber selbst nicht an seine Prinzipien und mache sich Illusionen über den "neuen, aggressiven und fest entschlossenen Westen". Stoppen könnten das Ganze nur Washington oder Peking: "Oder die wahnsinnige Angst, die sich hinter der Sturheit verbirgt, führt zur Katastrophe."
Ähnlich spöttisch heißt es in einer weiteren russischen Analyse: "Zuerst beginnen sie einen Krieg, und dann kommt der Krieg in ihr eigenes Haus und das Haus brennt nieder. Den heimischen russischen 'Falken" beginnt zu dämmern, dass sich die westlichen 'Tauben' als 'Adler' erweisen. Faul, schläfrig, fett, aber Adler. Und ein Falke hat gegen einen Adler keine Chance. Jetzt wollen sie verhandeln. Aber ohne territoriale Zugeständnisse des Kremls wird es keine Vereinbarungen geben, und Putin will keine Zugeständnisse machen. Die Falken wissen das, aber sie können Putin nicht direkt etwas darüber ins Gesicht sagen, also senden sie einfach ins All, wie viel Angst sie haben."
"Keine Schande, vom Feind zu lernen"
Exil-Blogger Wladimir Pastuchow verglich Russlands Lage mit einem Mangel an "Vitaminen und Spurenelementen", wie sie jeder Mensch zum Überleben dringend benötige [externer Link]: "Von all dem braucht man nicht viel (zumindest nicht so viel wie Fette oder Kohlenhydrate), aber ein sich langsam verschärfender Mangel führt zu unumkehrbarem Abbau und zur Degeneration des Körpers. Ähnliches erlebt das Putin-Regime derzeit. Trotz der Tatsache, dass es in der Lage ist, die Grundbedürfnisse auf einem angemessenen und manchmal sogar besseren Niveau als vor dem Krieg abzudecken, erhöht sich unmerklich ein Defizit an jenen 'sozialen Spurenelementen', ohne die die Gesellschaft über längere Zeit nicht existieren kann."
Putin setze auf einen propagandistischen "Bluff", Russlands Situation sei "viel schlimmer" als angenommen. Die Rüstungsbranche sei an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, ebenso wie die Logistik. Das bestätigen übrigens viele Meinungsäußerungen aus den Reihen der russischen Militärblogger, die ständig über fehlenden Nachschub und verheerende ukrainische Angriffe auf russische Konvois klagen: "Es ist keine Schande, vom Feind zu lernen. Wenn die Logistik nicht den Armeekommandanten, sondern professionellen Fachleuten anvertraut würde, zumindest, was die Erstellung von Anfahrtswegen, Zeitplänen, Staugefahren mit ständig wechselnden Koordinaten betrifft, also die Sicherheit, dann würde alles schneller an die Front gelangen."
"Was nur Jungs verstehen können"
Der russische Politologe Andrej Nikulin wählte eine vielsagende Fabel, um die derzeitige Frustration in den Kreisen der Kreml-Propagandisten zu illustrieren [externer Link). Er verglich Putins Überfall auf die Ukraine mit dem Versuch von Kriminellen, eine Fabrik zu besetzen: "Das Problem bestand darin, dass sie es mit einer Art Genossenschaft zu tun bekamen, in der sowohl der Direktor als auch die Geschäftsführung vom Kollektiv gewählt werden und sich daher jeder Mitarbeiter als Miteigentümer betrachtet. Mag sein, mit miserabler Rentabilität, aber mit echtem Stolz und Einfluss auf das, was passiert."
Daher sei die Räuberbande zunächst von den entschlossenen Pförtnern aufgehalten worden: "Dann kamen die aufgescheuchten und wütenden Arbeiter herangestürmt und aus dem schnellen Überraschungsvorstoß wurde ein langes Ringen um das Fabrikgelände, das für die Angreifer immer teurer und schmerzhafter wurde. Aber abhauen darf man nicht, weil die Ehre der Jungs auf dem Spiel steht, was nur Jungs verstehen können."
Das Fazit eines Polit-Bloggers: "Der gegenwärtigen politischen Schönheit Russlands mangelt es eindeutig an einem objektiven Blick auf die heutige Realität. Allerdings dreht sich die gesamte Außenpolitik eigentlich nur um Schönheitsprobleme. Leider!"
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