Frankreich, Lyon: Fußball: Länderspiele, Frankreich - Deutschland, Groupama Stadium. Die Fernsehexperten Christoph Kramer (l) und Per Mertesacker stehen vor dem Spiel zusammen. Beide sind auch beim EM-Eröffnungsspiel im Einsatz. (zu dpa: «Moderatoren, Experten und Co.: Wo die EM-Eröffnung im TV läuft») Foto: Christian Charisius/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Christoph Kramer und Per Mertesacker sind am 14.6. beim Eröffnungsspiel dabei. Hier talken sie beim Spiel gegen Frankreich im März 2024

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"Scheißfragen": Warum Fußballer-Interviews öfter mal eskalieren

Mit dem Start der EM beginnt auch die Zeit der "Scheißfragen" am Spielfeldrand, die Fußballer in Rage bringen. Woran können Postmatch-Interviews scheitern? Über legendäre Ausraster und den Mechanismus dahinter.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Kulturleben am .

Fieldreporterinnen und -reporter haben es nicht leicht. Kaum ein journalistisches Genre ist so undankbar wie das sogenannte Postmatchinterview. Und so Meme-verdächtig. Das Internet wimmelt von Videoschnipseln, in denen sich verschwitzte Fußballer über die "Scheißfragen" (Toni Kroos, Jonas Hector) von Rasenreportern ärgern, oder sogar die Flucht in die "Eistonne" (Per Mertesacker) antreten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es am Spielfeldrand knallt, ist hoch. Und wenn es dazu kommt, auch der Spaß (für die Zuschauerinnen und Zuschauer).

Postmatchinterviews: Zwischen Eskalation und Erwartbarkeit

Noch höher ist allerdings die Wahrscheinlichkeit, sich in Grund und Boden zu langweilen. Denn öfter noch als durch Eskalation glänzen Postmatchinterviews durch ihre formvollendete Erwartbarkeit. Auf die immergleichen Fragen folgen die immergleichen Antworten. Klar, man kann Phrasenbingo spielen, um den Unterhaltungswert des Ganzen zu steigern. Das war's dann aber auch schon.

Ein Format, gefangen zwischen Eskalation und Erwartbarkeit – dieses Dilemma sieht auch Antje Wilton, Professorin an der Freien Universität in Berlin. Die Soziolinguistin beschäftigt sich seit Jahren wissenschaftlich mit Postmatchinterviews.

Ihr zufolge steht das Format vor einer ganz grundsätzlichen Schwierigkeit. "Typischerweise wird in einem Interview ja etwas erfragt, was man noch nicht weiß. Und das ist in diesem Fall natürlich eine besondere Herausforderung, weil sich das Interview auf das Spiel beziehen soll, das alle schon gesehen haben." Und nicht nur gesehen. Auch mit Kommentar und Analyse ist das Fernsehpublikum schon ausgestattet, wenn der Spieler seinen Senf dazu geben soll.

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Spielerversteherin: Die Soziolinguistin Antje Wilton forscht an der Freien Universität Berlin unter anderem zu Postmatch-Interviews

Was fragen, wenn alles klar ist?

Wonach also fragen, wenn alle schon (fast) alles wissen? Nach Gefühlen, na klar. Wilton spricht auch vom "persönlichen Erlebensbereich des Spielers". Der sei immerhin noch unerschlossenes Terrain. Damit hören die Probleme allerdings nicht auf.

In einer für den Spieler hochemotionalen Situation dessen Befindlichkeiten abzuklopfen, ist eine explosive Angelegenheit. Oft reicht da eine Suggestivfrage als Zünder, à la "Wie enttäuscht sind Sie?"

Wilton spricht in dem Zusammenhang auch von degree-Fragen. Was sie problematisch macht: Indem sie nach dem Grad eines bestimmten Gefühls fragen, unterstellen sie bereits, dass der Spieler dieses Gefühl hat. Sie könne durchaus verstehen, dass Spieler deswegen "grantig" würden, so Wilton.

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Auch als Interviewpartner gefürchtet: Oliver Kahn zu aktiven Zeiten

Auch von kritischen Fragen rät die Linguistin ab. Postmatchinterviews seien eben keine politischen Interviews, in denen es darum gehe, das Gegenüber zur Verantwortung zu ziehen, oder in die Ecke zu drängen. Am Spielfeldrand sei psychologisches "Fingerspitzengefühl" gefragt – und die Bereitschaft zur Kooperation: "Man möchte eigentlich gerne gemeinsam zu einer Beurteilung des Spiels kommen, mit der man auch die Zuschauer mitnehmen kann."

Stupsen statt sticheln!

Volles Verständnis also für Toni Kroos, der sich nach seinem fünften Champions-League-Gewinn mit Real Madrid zu einer saftigen Journalistenschelte hinreißen ließ. "Du hattest 90 Minuten Zeit, dir vernünftige Fragen zu überlegen, und dann stellst du mir zwei so Scheißfragen", raunzte Kroos den ZDF-Mann an, der ihn auf die mäßige Leistung der Königlichen im Finale angesprochen hatte. Typisch deutsch sei das, knurrte Kroos dann noch hinterher. In diesem Punkt widerspricht Antje Wilton allerdings. Postmatchinterviews würden "international sehr ähnlich" geführt, so die Linguistin. Nur die Briten hätten ein wenig die Nase vorn.

Dort würden die Spieler oft im Doppel zum Interview gebeten. Das erzeuge eine etwas entspanntere Gesprächsatmosphäre. Außerdem arbeiteten die Journalistinnen und Journalisten dort weniger mit Fragen, sondern eher mit kurzen Feststellungen, um das Gespräch ins Laufen zu bringen. Stupsen statt sticheln, lautet die Devise auf der Insel. Zumindest am Spielfeldrand.

Das Murmeltier darf weiter grüßen!

Origineller macht das die Interviews freilich nicht. Auch auf englischem Rasen hagelt es Phrasen. Hier lässt Wilton allerdings Nachsicht walten: "Das Spiel ist ja auch sehr stark reglementiert. Es gibt immer wieder dieselben Ereignisse wie Fouls und Tore, und da routinisiert sich dann natürlich auch das Berichten darüber." Sinnlos macht das die Geplänkel am Spielfeldrand nicht. Diese hätten sowieso einen eher rituellen Charakter, so Wilton. Das Geplänkel gehört zum Gekicke halt dazu.

Und auch im Offensichtlichen kann ja eine gewisse Schönheit liegen. Manch einer erinnert sich vielleicht noch an das legendäre "Eier, wir brauchen Eier!"-Interview mit Olli Kahn, das mit dem Dialog begann: "Oliver Kahn, Sie sind bekannt für Ihre klaren Worte, warum hat Bayern München hier 2:0 verloren? – Weil wir kein Tor geschossen haben." Der für seine Ausraster berüchtigte Titan beherrschte auch die lakonische Eleganz.

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