Niemand fühlt sich zuständig: Verantwortungsdiffusion. Dazu eine evangelische Form von Harmoniezwang und Gutgeschwisterlichkeit. Außerdem das Selbstbild, die angeblich bessere und progressivere Kirche zu sein. Solche Faktoren, die das Risiko für sexuellen Missbrauch in den evangelischen Kirchen erhöhen, liegen seit der im Januar veröffentlichten ForuM-Studie auf dem Tisch. Sie sind zugleich bis heute Hemmschuh für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche.
Inzwischen wird deren Umgang mit der Aufarbeitung oft mit ähnlichen Attributen belegt, wie man sie bisher aus der katholischen Kirche kannte. Das attestierte der Koordinator der ForuM-Studie schon im Januar: "Zeitliche Verzögerung", "schleppende Zuarbeit" und Erfahrungen Betroffener, die "im Widerspruch zu einer proklamierten Null-Toleranz" stehen. Was das für die Betroffenen bis heute bedeutet, zeigen folgende Beispiele.
Verantwortungsdiffusion in Willmars
Verantwortliche übernehmen zu wenig oder keine Verantwortung, Verantwortung wird hin und hergeschoben, aufgearbeitet wird nicht oder nicht pro-aktiv, sondern nur auf Druck der Öffentlichkeit – was die Ergebnisse der ForuM-Studie belegen, zeigt eine Geschichte aus dem unterfränkischen Willmars aus den 1960er Jahren, die bis heute nicht zu Ende erzählt ist.
Klaus Spyra ist dort als Kind im Nicolhaus untergebracht, einem Heim der Diakonie. Was ihm widerfahren ist, erzählt er 2021 in einer Radiosendung des BR. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits Entschädigungsleistungen von der evangelischen Landeskirche erhalten. Er ist überzeugt, dass er nicht der einzige Betroffene im Nicolhaus war. Er habe die Schreie anderer Kinder gehört.
Kirche spricht 2021 von "Sisyphos-Arbeit"
Gab es weitere Betroffene? Das ist 2021 die Frage. Vom Nicolhaus selbst wie auch von der Diakoniegemeinschaft Stephanstift, zu der der Beschuldigte gehörte, gab es keine Stellungnahme. Und der Leiter des Landeskirchenamts, Nikolaus Blum, hielt damals im BR-Interview von einem Durchforsten alter Akten wenig. "Die Akten bei 20.000 kirchlichen Mitarbeitern ist eine immense Menge, es ist eigentlich eine Sisyphos-Arbeit", so Blum damals.
Heute ist klar: Es gibt mindestens einen weiteren Betroffenen. Ein Team des Bayerischen Rundfunks hat mit Hermann Ammon gesprochen und der berichtet erstmals öffentlich vom Täter: "Er war ein Mensch, der Kinder mit Freude terrorisiert hat, mit Schlägen, Misshandlungen, Gewalt."
Der beschuldigte Diakon war kein Unbekannter. In einem dem BR vorliegenden Schreiben von 1969 an das Diakonische Werk der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern ist die Rede davon, dass seine Tätigkeit in einem Internat "nicht ganz einhellig" beurteilt werde und dass er eine große Liebe zu Kindern habe. Auch wird ihm die Arbeit mit alten Menschen nahegelegt.
Selbst dort, wo es Meldungen gebe, wurde und werde nicht pro-aktiv nachgeforscht, kritisiert Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung, die Haltung der evangelischen Kirche.
Evangelischer "Harmoniezwang" im Zeltlager
Nächstes Beispiel, der "Harmoniezwang" als Hindernis der Aufarbeitung: Unter ihm litt etwa eine Frau, die im UBSKM-Bericht von 2019 Johanna genannt wird - und deren Fall symbolisch steht für viele im evangelischen Gemeindekontext.
Nach ihrer Konfirmation erlebt Johanna erste Grenzüberschreitungen in der Jugendgruppe durch den Gemeindepfarrer. "Das war auch diese Zeit, wo man ja locker sein musste", so wird Johanna dort zitiert. "Der Pastor hat sich immer sehr progressiv und links gegeben. (...) Der war für mich Gott und Vater und Jesus und mein wichtigster Lehrer, alles in einer Person."
Auf einer Ferienfahrt küsst der Mann das junge Mädchen – mitten im Matratzenlager zwischen schlafenden Jugendlichen. Johanna – aus einem schwierigen Elternhaus stammend – hat das Gefühl, endlich geliebt zu werden. Die Folge: ein jahrelanges Verhältnis, das mit einem Schwangerschaftsabbruch endet. Erst im Studium schafft Johanna es, sich zu trennen. Gerüchte habe es in der Gemeinde viele um den Pastor gegeben. Aber: "So wirklich hat aber niemand etwas gemacht, sodass es letztlich für den Täter keine Konsequenzen gab."
Verzerrtes Selbstbild erschwert Hinschauen
Schuld daran ist nicht zuletzt ein verzerrtes Selbstbild der evangelischen Kirche, "also die Erzählung der besseren Kirche, gerade auch in Abgrenzung zu anderen Kirchen und Glaubensgemeinschaften", wie es Forschungskoordinator Watzlawik bezeichnet. Und dieses Selbstbild bot in der Vergangenheit in Abgrenzung von der katholischen Kirche Raum, nicht genau hinzuschauen bei grenzüberschreitendem bis hin zu missbräuchlichem oder pädokriminellem Denken und Verhalten bei den Protestanten, wie es ein Fall aus dem oberbayerischen Josefstal zeigt.
Dort ist im Evangelischen Studienzentrum unweit des Schliersees von 1962 bis 1965 der Psychologe, Sexualwissenschaftler und spätere Professor für Sozialpädagogik Helmut Kentler als wissenschaftlicher Mitarbeiter angestellt, gefragter Experte – auf Kirchentagen wie in Talksshows. Er tritt ein für reformpädagogische Ideen, für eine neue Form der Jugendarbeit, für die Rechte Homosexueller und für einen anderen Blick auf Sexualität.
Jahre später wird klar: Ihm kommt eine Schlüsselrolle zu bei der Verharmlosung pädokriminellen Verhaltens und bei der Ermöglichung dessen. Als Gerichtssachverständiger trägt er dazu bei, dass Missbrauchstäter freigesprochen werden. Und im Rahmen des sogenannten "Kentler-Experiments" überzeugt er Jugendämter, Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen an pädophile Pflegeväter zu vermitteln. Seine Idee: Nur Pädophile seien in der Lage, schwer erziehbare Kinder zu lieben.
Der Fall Kentler: Sexualisierte Gewalt getarnt als Progressivität
Was er Liebe nannte, heißt heute sexueller Missbrauch. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universität Hildesheim geht davon aus, dass der Hochschullehrer mehr als 30 Jahre lang Kinder Missbrauchstätern zuführte und sein Netzwerk sehr viel größer war als bislang angenommen.
Mit dem Evangelischen Studienzentrum Josefstal hat das alles nur indirekt zu tun – und doch zeigt diese Geschichte, wie schwer sich die Evangelische Kirche lange Zeit damit tat, hinzuschauen. Denn auch wenn Helmut Kentler nur drei Jahre in Josefstal angestellt war, blieb er dem Tagungshaus doch bis 2001 verbunden und trat dort auf Podien auf. Er sei ein "Freund des Hauses" gewesen, heißt es von ehemaligen Mitarbeitern im BR-Gespräch. Bei dreiwöchigen Sommer-Freizeiten für Familien mit Kindern mit Behinderung war er bis 1999 als "pädagogischer Berater" beteiligt, soll auch Vorträge zum Thema Sexualpädagogik gehalten haben – alles ehrenamtlich.
Distanzierung von Kentler gibt es - aber zunächst nur intern
Ob während seiner Festanstellung in den 60er Jahren oder bei den Freizeiten in den 90er Jahren etwas vorgefallen ist, ist nicht bekannt. Roger Schmidt leitet das Haus seit 2019, er kennt Helmut Kentler nur aus Erzählungen, betont aber: "Man hätte es sicherlich wissen können. Es gab ja Publikationen von ihm selbst, in denen er vertreten hat, dass sexuelle Beziehungen zwischen Minderjährigen und Erwachsenen möglich und vielleicht sogar hilfreich sind." Das hätte man Schmidt zufolge bemerken können - spätestens 2011. Helmut Kentler ist da schon drei Jahre tot. Die bayerische Landessynode befasst sich nun mit ihm – aber nur intern. Erst zehn Jahre später, am 1. Mai 2021 veröffentlicht der Vorstand des Studienzentrums eine Erklärung, in der er sich einerseits distanziert von Kentlers Theorien und andererseits dafür entschuldigt, dass man sich nicht schon früher distanziert hat.
Zuvor war bekannt geworden, dass sich zwei Betroffene des "Kentler-Experiments" mit dem Land Berlin auf eine Entschädigungssumme geeinigt und ihre Amtshaftungsklagen zurückgezogen hatten.
Auf BR-Anfrage bedauern die bayerische Landeskirche und der ehemalige Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm ihren kritiklosen Umgang mit Helmut Kentler schriftlich. Für ein Interview stand der ehemalige Landesbischof nicht zur Verfügung.
Offizielles Bedauern reicht den Betroffenen nicht
Betroffenenvertretern wie Detlev Zander und Katharina Kracht aber ist derartiges Bedauern zu wenig. Sie fordern einheitliche Anerkennungszahlungen, schnellere Verfahren und ein echtes Zugehen auf die Betroffenen. Die To-Do-Liste, die sich aus der ForuM-Studie für die EKD und die Diakonie ergibt, ist lang. Und noch immer wird Verantwortung von A nach B oder C verschoben – auch im Frühjahr 2024, wie der Fall Hermann Ammon zeigt.
Verantwortungsdiffusion auch noch im Frühjahr 2024?
Konfrontiert mit den Recherchen verweist die Diakonie Bayern auf den örtlichen Verein und die evangelische Landeskirche verweist auf "verteilte Zuständigkeiten": "Das Nicolhaus liegt im Gebiet der bayerischen Landeskirche, ist aber eine Einrichtung des örtlichen Diakonievereins. Der beschuldigte Diakon W. war Mitglied einer Diakonengemeinschaft in Hannover und tätig an mehreren Stellen Deutschlands. Damit sind unsere Möglichkeiten leider sehr begrenzt."
Braucht es also doch ein Aufarbeitungsgesetz? Braucht es letztlich die Politik, den Staat, wie vielfach gefordert?
Für die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Kerstin Claus wiederholt sich in dieser Forderung ein Verschieben von Verantwortung. Trotzdem betont sie: Da, wo Kinder und Jugendliche aktuell oder in der Vergangenheit nicht geschützt werden oder wurden, gelte das Wächteramt des Staates.
Allerdings – bis der Staat dieses Wächteramt entsprechen ausüben kann, bis es ein entsprechendes Gesetz gibt, bis es in der evangelischen Kirche deutschlandweit einheitliche Standards gibt, bis Verantwortung nicht mehr von A nach B und oder C verschoben wird – kämpfen Menschen wie Hermann Ammon allein um Anerkennung des erlittenen Leids.
- Zum Artikel: "Oje" - Kirchentag versucht das Thema Missbrauch anzugehen
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
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