Stolze 94 Jahre ist Jürgen Habermas inzwischen alt, der wohl bekannteste deutsche Sozialwissenschaftler und vielfach ausgezeichnete Stardenker der zweiten Generation der weltweit einflussreichen "Frankfurter Schule". Um intellektuelle Debatten war Habermas nie verlegen, so meldete er sich mit Getreuen auch zum Terroranschlag der Hamas auf Israel zu Wort, ein Text, der jetzt für massiven Widerspruch sorgte. Unter der Überschrift "Grundsätze der Solidarität" hatte der Philosoph am 13. November geschrieben: "Das Massaker der Hamas in der erklärten Absicht, jüdisches Leben generell zu vernichten, hat Israel zu einem Gegenschlag veranlasst. Wie dieser prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag geführt wird, wird kontrovers diskutiert; Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Vermeidung ziviler Opfer und der Führung eines Krieges mit der Aussicht auf künftigen Frieden müssen dabei leitend sein. Bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung verrutschen die Maßstäbe der Beurteilung jedoch vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden."
"Antisemitische Affekte hinter Vorwänden kultiviert"
Das Vorgehen Israels rechtfertige "in keiner Weise antisemitische Reaktionen, erst recht nicht in Deutschland", so Habermas: "Es ist unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Drohungen gegen Leib und Leben ausgesetzt sind und vor physischer Gewalt auf der Straße Angst haben müssen. Mit dem demokratischen, an der Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde orientierten Selbstverständnis der Bundesrepublik verbindet sich eine politische Kultur, für die im Lichte der Massenverbrechen der NS-Zeit jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind. Das Bekenntnis dazu ist für unser politisches Zusammenleben fundamental."
Die elementaren Rechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit sowie auf Schutz vor rassistischer Diffamierung seien unteilbar, argumentierte Habermas: "Daran müssen sich auch diejenigen in unserem Land halten, die antisemitische Affekte und Überzeugungen hinter allerlei Vorwänden kultiviert haben und jetzt eine willkommene Gelegenheit sehen, sie ungehemmt auszusprechen.
"Sorge um die Menschenwürde"
In einem englischsprachigen Appell, der im britischen "Guardian" veröffentlicht wurde, schreiben 107 Unterzeichner, fast alle Akademiker mit Lehrstühlen und einer intellektuellen Nähe zu Habermas, sie seien "zutiefst besorgt" über dessen Einlassungen. Zwar stimmten sie überein, "jüdisches Leben in Deutschland angesichts des zunehmenden Antisemitismus zu schützen", auch verurteilten sie die Morde und Geiselnahmen der Hamas vom 7. Oktober, doch ansonsten beurteilen sie die Habermas-Stellungnahme äußerst kritisch: "Wir sind zutiefst beunruhigt über die scheinbaren Grenzen der von den Autoren zum Ausdruck gebrachten Solidarität. Die Sorge um die Menschenwürde wird in der Erklärung nicht ausreichend auf die palästinensischen Zivilisten in Gaza ausgedehnt, denen Tod und Zerstörung bevorstehen. Sie wird auch nicht auf Muslime in Deutschland angewendet oder ausgeweitet, die unter zunehmender Islamophobie leiden. Solidarität bedeutet, dass der Grundsatz der Menschenwürde für alle Menschen gelten muss. Dies erfordert, dass wir das Leid aller Betroffenen eines bewaffneten Konflikts anerkennen und angehen."
"Einhaltung des Völkerrechts" angemahnt
Nicht alle Unterzeichner glaubten, dass durch das israelische Vorgehen "die rechtlichen Standards für Völkermord erfüllt" seien, dennoch seien sich alle einig, dass dies eine "Frage der berechtigten Debatte" sei. Konkret bemängeln die Wissenschaftler, dass Habermas drei "Leitprinzipien" für militärisches Handeln genannt habe, nämlich Verhältnismäßigkeit, die Verhinderung ziviler Opfer und die Aussicht auf künftigen Frieden. Doch die Einhaltung des Völkerrechts habe er nicht erwähnt: "Die Orientierung an den Grundsätzen internationaler Rechtsnormen, Solidarität und Menschenwürde zwingen uns dazu, alle Konfliktteilnehmer an diesem höheren Standard zu messen. Wir können nicht zulassen, dass die Gräueltaten uns dazu zwingen, diese Prinzipien aufzugeben."
Zu den Unterzeichnern gehören der New Yorker Geschichtsprofessor Adam Tooze, Diedrich Diederichsen, Professor für Theorie der zeitgenössischen Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien, zahlreiche Philosophie-Lehrstuhlinhaber wie Beate Roessler in Amsterdam, Steven Klein vom King's College in London, Mirjam Müller, Juniorprofessorin für Feministische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Konzeptkünstler Thomas Locher.
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