Im abgelaufenen dritten Quartal ist die Wirtschaft nach Daten des Statistischen Bundesamtes haarscharf an der Rezession vorbeigeschrammt. Die Stimmung in vielen deutschen Unternehmen ist so schlecht wie seit vielen Jahren nicht mehr. Firmen klagen über hohe Energiekosten, überbordende Bürokratie und mangelnden Reformwillen in der Politik. Aber: Verstärkt eine schlechte Stimmung nicht den Wirtschaftsabschwung?
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Wiese: Deutschland hat immer noch große Innovationskraft
Judith Wiese, als Vorständin bei Siemens eine der einflussreichsten deutschen Managerinnen, befürchtet genau das. Im Exklusiv-Interview mit BR24 sagt sie: "Deutschland ist immer noch die drittgrößte Industrienation. Insofern müssen wir aufpassen, dass wir unser Land nicht schlechter sehen, als es dasteht." In ihren Augen besteht die Gefahr, dass sich die schlechte Stimmung verselbständigt.
Die Bundesrepublik verfüge über sehr viele kluge Köpfe, so Wiese weiter. Wissen und Kreativität seien auch der Schatz und die Grundlage des Wohlstandes in einem Land, das kaum über natürliche Rohstoffe wie Öl, Gas, Seltene Erden oder Edelmetalle verfüge, so die Siemens-Vorständin. Es gebe hierzulande ein weltweit bewundertes enges Zusammenspiel von Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Das erleichtere den Weg von der Grundlagenforschung hin zu marktreifen neuen Produkten. Das könne man auch an der hohen Zahl von Patenten "Made in Germany" ablesen.
Aber: Der Biss fehlt zu häufig
Und dann kommt das große Aber: Deutschland habe auch an Wettbewerbsfähigkeit verloren, ist Judith Wiese überzeugt. Andere Nationen würden hier aufholen. Insbesondere China habe sich von der verlängerten Werkbank zu einer Gesellschaft gewandelt, die selbst viel neue Technologie entwickelt und auf den Markt bringt, zum Beispiel im Automobilbereich. Deswegen müsse man sich überlegen, wie die Bundesrepublik in Zukunft konkurrenzfähig bleiben will.
Diese Zukunft beginnt mit der jungen Generation. Auch deshalb widerspricht Wiese vehement dem häufig geäußerten Vorwurf, dass gerade die junge Generation nicht mehr bereit sei, so hart zu arbeiten wie noch ihre Eltern: "Ich kann nur davor warnen, eine ganze Generation in dieser Form abzuschreiben." Das könne man so pauschal nicht sagen, so die Vorständin, die als Personalchefin für die rund 320.000 Menschen zählende Siemens-Belegschaft verantwortlich ist: "Ich kann das aus Siemens-Sicht auch nicht nachvollziehen."
Motivation hänge nicht vom Alter ab, sondern von der Frage, ob Mitarbeitende das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun. Ihr eigenes Unternehmen stehe hier sehr gut da, so Wiese. In verschiedenen Rankings, in denen beliebte oder begehrte Arbeitgeber ermittelt werden, steht Siemens tatsächlich konstant auf Spitzenplätzen.
Was die Wirtschaft wirklich braucht
Anstatt mit dem Finger auf andere zu zeigen, brauche Deutschland gerade ganz andere Dinge: einen radikalen Bürokratieabbau und eine bessere digitale Infrastruktur, ausreichend finanzierte Bildung und einen breiteren Konsens zur "persönlichen Arbeitszeit". Vor allem hier sieht Wiese noch Ausbaumöglichkeiten und Raum für mehr gegenseitige Akzeptanz.
Deutschland sei wegen der Erfolge der Vergangenheit oft zu selbstzufrieden und zu satt, so Judith Wiese. Das sei vielen Menschen aber gar nicht bewusst. Ein Beispiel: Nach Daten der OECD arbeiten Beschäftigte in Deutschland pro Jahr weniger als 1.400 Stunden. Das liegt deutlich unter dem OECD-Schnitt von 1.742 Stunden. Deutlich darüber liegen unter anderem die USA, China und Südkorea.
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