Zwei Ehepaare und vier Kinder flüchteten in der Nacht zum 16. September des Jahres 1979 im Heißluftballon aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Einer von ihnen war Günter Wetzel. Bewacht wurde die Grenze von der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik. Einer der Wehrpflichtigen, die den Ballon am Nachthimmel leuchten sahen, war Peter Richter. Heute ist er mit Wetzel befreundet.
Nach Ballonflucht entsteht "ungewöhnliche Freundschaft"
Günter Wetzel und Peter Richter stehen lachend nebeneinander, Kameras sind auf die beiden Rentner gerichtet. Eine ungewöhnliche Freundschaft verbindet sie. Bei ihrer ersten Begegnung vor 45 Jahren standen sie sich eher als Feinde gegenüber. Peter Richter war DDR-Grenzsoldat – Wetzel saß im Ballon.
Es war mitten in der Nacht zum 16. September, als Peter Richter plötzlich ein rot flackerndes Licht am Himmel entdeckte. Als Wehrpflichtiger in der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR war er auf einem Wachturm an der innerdeutschen Grenze bei Blankenstein eingesetzt – dort, wo Thüringen an Oberfranken grenzt. Mit Scheinwerfern versuchten Soldaten das unbekannte Objekt am Nachthimmel einzufangen. "Ich habe durchs Fernglas geschaut, konnte aber nichts Genaues erkennen. Dann habe ich mit einer Meldung meinen Vorgesetzten alarmiert", erzählt Peter Richter.
Mit dem Ballon über die Grenze
Doch bis die DDR-Grenztruppen reagieren konnten, war das rote Licht über dem Himmel schon wieder verschwunden. Was Peter Richter damals nicht wusste: Die vier Gasflaschen des Ballons waren leer, langsam schwebte er zu Boden, blieb schließlich in Bäumen hängen. Auf der kleinen Plattform dichtgedrängt die zwei Ehepaare und ihre vier Kinder im Alter zwischen zwei und 15 Jahren – nur gesichert durch ein notdürftiges Geländer aus Wäscheleinen. Bei der unsanften Landung haben die zwei Familien Wetzel und Strelzyk Glück. Nur Günter Wetzel verletzt sich leicht.
Aber die Unsicherheit bleibt – sind sie im Westen? Während sich die Frauen mit den Kindern im Gebüsch verstecken, erkunden Günter Wetzel und Peter Strelzyk die Gegend. Als sie an einem Strommast das Schild "Überlandwerk" und in einer Scheune einen Fendt-Traktor sehen, wächst die Zuversicht. Dann kommt ihnen ein Polizeiauto entgegen. Die vier Audi-Ringe auf dem Kühlergrill geben endgültig Gewissheit. Ja, ihre waghalsige Flucht ist geglückt: Sie sind in Naila im Landkreis Hof gelandet.
Die Sehnsucht nach Meinungsfreiheit und einem selbstbestimmten Leben hatte den damals 24-jährigen Günter Wetzel angetrieben. Weil sein Vater in den 1960er-Jahren in den Westen geflohen war und er selbst nicht in die SED, die Einheitspartei der DDR, eintreten wollte, durfte er nicht Physik studieren. Seiner Ehefrau wurde der Besuch bei der kranken Mutter verweigert, die als Rentnerin aus der DDR ausreisen durfte.
Spektakuläre Flucht sorgt weltweit für Aufsehen
In der Region Hof haben sich die Wetzels nach der Flucht schnell ein neues Leben aufgebaut: "Wir haben viel Unterstützung bekommen. Robert Strobel, der damalige Bürgermeister von Naila, hat uns sofort eine Wohnung organisiert" erzählt Wetzel, der seit einigen Jahren in Chemnitz lebt.
Die spektakuläre Flucht der beiden Familien hat weltweit für Aufsehen gesorgt, wurde wenige Jahre danach von Hollywood verfilmt und 2018 dann von Michael "Bully" Herbig. Auch der ehemalige DDR-Grenzsoldat Peter Richter hat diesen Thriller gesehen – seine Erinnerungen kommen wieder hoch. Schließlich entdeckt er die Günter Wetzels Internetseite über die Ballonflucht – und ruft ihn an. "Ich war schon etwas unsicher, will er denn überhaupt was von mir wissen."
Darum durfte nicht geschossen werden
Doch seine Sorgen sind unbegründet. Der ehemalige Ballonflüchtling Wetzel freut sich, jenen Mann kennenzulernen, der Jahrzehnte zuvor beinahe seine Flucht verhindern hätte können. Wetzel betont: "Peter Richter konnte nicht anders handeln. Das war ja sein Job als wehrpflichtiger Soldat." In den Gewissenskonflikt wegen es Schießbefehls war der damalige Grenzsoldat übrigens nicht gekommen: "Auf alles, was fliegt, durfte nicht geschossen werden. Gott sei Dank", so Peter Richter.
Mittlerweile ist er öfter bei Wetzels zahlreichen Vorträgen, erzählt zum Beispiel, dass er und die anderen Soldaten noch in jener Septembernacht 1979 ihre Radios in der Kaserne abgeben mussten – weil im Westradio schon ausführlich über die geglückte Flucht berichtet wurde.
Das Interesse an den Vorträgen zur Ballonflucht sei in den vergangenen Jahren immer größer geworden, freut sich Wetzel. Er erklärt dabei nicht nur die waghalsige Konstruktion des Ballons, sondern erzählt auch, von der Bespitzelung durch die Stasi.
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