Landwirt Stefan Gast züchtet schottische Hochlandrinder, die das ganze Jahr auf der Weide sind. Ende Januar, Anfang Februar kommen die Kälber zur Welt, unter freiem Himmel. "Bis minus 18 Grad ist das gar kein Problem, die halten das aus", sagt der Rinderhalter.
Doch warum brauchen dann Kälber im Stall nach der Geburt eine Wärmebox? "Wenn der Nachwuchs aus dem Mutterleib ins Freie kommt und es hat Temperaturen um den Gefrierpunkt, sind das plötzlich knapp 40 Grad weniger. Das Kalb bekommt einen Kälteschock", sagt Wolfgang Müller vom Versuchs- und Bildungszentrum für Rinderhaltung in Grub. Ein Widerspruch?
Ganzjährig draußen bei jedem Wetter
Landwirt Stefan Gast aus Winden im oberbayerischen Landkreis Pfaffenhofen hat für die kleinen gedrungenen schottischen Hochlandrinder mit dem langen Zottelfell nur einen kleinen Unterstand auf der Weide gebaut, nach zwei Seiten offen. Nur selten nutzen die Tiere dieses Dach überm Kopf, selbst bei dichtem Schneetreiben, Wind oder Regen stehen die Tiere draußen und grasen. Und die Kälber?
Kälber kommen im Winter im Freien zur Welt
Der Zuchtstier, jedes Jahr ein anderer, darf erst immer im Mai zur Herde, damit es möglichst termingenau Kälber gibt: nämlich Ende Januar, Anfang Februar. Zur kältesten Jahreszeit kalben die Kühe unter freiem Himmel, danach verfrachtet sie der Landwirt zusammen mit dem Kalb für eineinhalb bis zwei Wochen im Unterstand in eine Abkalbebox. Allerdings nicht wegen der Kälte, sondern damit Mutter und Kind ihre Ruhe haben vor den anderen Kühen und das Kalb ungestört am Euter saufen kann. Den Abkalbezeitpunkt Ende Januar plant Stefan Gast ganz gezielt: "Weil es da weniger Fliegen und Parasiten gibt. Die Kälber müssen nach der Geburt ja erst ihr Immunsystem aufbauen und das funktioniert in der kälteren Jahreszeit viel besser."
Eine Wärmebox gegen Kälteschock
Ums Immunsystem von Kälbern geht es auch Wolfgang Müller am Versuchs- und Bildungszentrum für Rinderhaltung am Staatsgut Grub im Landkreis Ebersberg. Deshalb hat er für 2.000 Euro eine Wärmebox gekauft. Denn in einem Milchviehstall sei die Situation eine ganz andere, keine natürliche Situation wie bei Mutterkuhhaltung auf der Weide. In einem Stall, wo viele Tiere auf engem Raum leben, sei der Keim- und Infektionsdruck viel höher als im Freien. Deshalb dürften Kälber keinesfalls frieren. Denn dann würden sie krank werden und auch das Immunsystem könnte sich nicht so gut ausbilden, erklärt Müller.
Nasse Kälber verlieren schnell Wärme
Der Grund: Kälber sind nach der Geburt nass, die Verdunstungskälte entzieht dem Körper Energie. Kommt dann Zugluft dazu, würden sie sofort krank, sagt Wolfgang Müller. In der Natur wird ein Kalb von der Mutter so lange abgeleckt, bis es fast trocken ist, das Ablecken fördert außerdem die Durchblutung der Haut. Und das Kalb kann jederzeit am Euter trinken und sich so Energie holen. Auskühlung ist dadurch kein Thema – außerdem befriedigt dieses Verhalten auch die natürlichen Instinkte der Tiere. Und im Stall? Auch in vielen Milchviehställen ist es mittlerweile üblich, dass Kühe in einer Abkalbebucht ihren Nachwuchs ablecken dürfen und ein paar Stunden oder sogar ein paar Tage zusammenbleiben dürfen.
Wolfgang Müller findet das falsch: "Durch das Ablecken wird das Kalb nicht vollständig trocken. Es kühlt aus, das ist schlecht fürs Immunsystem. Und im Stall braucht das Kalb ein viel besseres Immunsystem als auf der Weide – wegen der Keime. Also am besten das Kalb sofort nach der Geburt weg von der Mutter und rein in die Wärmebox." Die Trennung von Kuh und Kalb stehe zwar in der Kritik, aber Müllers Argument: Tiergesundheit sei wichtiger als Wohlbefinden.
Trocken föhnen statt trocken reiben
In vielen Ställen ist es deshalb immer noch der Normalfall, Kuh und Kalb sofort nach der Geburt zu trennen, auch aus einem zweiten Grund: damit Mutter und Kind keine Bindung zueinander aufbauen und es später keinen Trennungsschmerz gibt. Der Landwirt müsse das Kalb dann trockenreiben, sagt Wolfgang Müller, das sei aber zeitaufwendig und nicht optimal. In der Wärmebox wird ein Kalb bei angenehmen 30 Grad mit warmer Luft trocken geföhnt. Wolfgang Müller berichtet, dass das in der Praxis noch die absolute Ausnahme ist, aber er will die Milchbauern überzeugen: "Man redet viel über den Hitzestress bei Milchkühen. Aber dass neugeborene Kälber einen Kältestress erleiden bei Geburtstemperaturen kleiner gleich 10 Grad, das wissen die wenigsten."
Nach der Wärmebox eine Wärmedecke
Ein halber Tag in der Wärmebox reiche, sagt Rinderexperte Wolfgang Müller, danach kommt das Kalb in eine normale Kälberbox mit einer Wärmedecke auf dem Rücken. Und nach zwei Wochen geht es dann zu den anderen Kälbern in Gruppenhaltung. Diese Vorgehensweise lohnt sich, da ist sich Wolfgang Müller sicher. Sein Ziel: die Kälbersterblichkeit reduzieren: "Die Kälberverluste sind bayern- und bundesweit nach wie vor sehr hoch, speziell was Durchfall-, Lungen- und Atemwegserkrankungen betrifft. Über eine Stärkung des Immunsystems werden wir mit Sicherheit große Fortschritte machen und die Verluste reduzieren."
Weidehaltung: Eisige Minusgrade sind kein Problem
Doch warum bekommen die Kälber bei Hochlandrinderzüchter Stefan Gast keinen Kälteschock? Bis zu 18 Grad minus sind kein Problem bei dieser Rasse, ihr Winterfell schützt die schottischen Highland Cattle – auch die neugeborenen Kälber haben bei dieser Rasse schon ein dichtes wärmendes Fell. Aber würden das auch bayerische Fleckviehkühe und ihre Kälber aushalten? "Warum nicht? Wenn sie das ganze Jahr draußen sind, haben sie ja auch ein Winterfell und die Kälber kommen unter natürlichen Bedingungen zur Welt", sagt Landwirt Gast. Auch er bekräftigt: Die Situation an der frischen Luft sei nicht vergleichbar mit dem keimbelasteten Raumklima in einem Stall.
Wohlfühltemperatur nicht vergleichbar mit dem Menschen
Ganz grundsätzlich gilt, so Tierärztin Isabella Lorenzini von der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft, dass Rinder es viel lieber kalt mögen als zu warm. Die Wohlfühltemperatur liegt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zwischen minus 15 und plus 15 Grad. Bei einem unbekleideten Menschen dagegen sei die thermoneutrale Zone, das ist der Fachbegriff für Wohlfühltemperatur, bei 27 bis 31 Grad Raumtemperatur. Und Schnee auf dem Rücken von Rindern sei kein Anzeichen, dass das Tier friere oder leide. Ganz im Gegenteil: "Er ist ein Zeichen dafür, dass das Haarkleid einen Verlust von Körperwärme verhindert", so Veterinärin Lorenzini.
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