Seit drei Monaten beschäftigt sich das Landgericht Würzburg mit diesem Fall. Nun soll ein Urteil fallen. Im September 2023 hat ein Jugendlicher einen gleichaltrigen Mitschüler erschossen. Die Tat ereignete sich in einem Gebüsch hinter einem Schulzentrum in Lohr am Main. Nach 14 Verhandlungstagen konnten die Prozessbeteiligten offene Fragen klären. Doch zur entscheidenden Situation gibt es weiterhin verschiedene Interpretationen: Unter welchen Umständen hat der Jugendliche den tödlichen Schuss abgegeben?
Prozess hinter verschlossenen Türen
Weil der Angeklagte erst 15 Jahre alt ist, findet der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Eine Sprecherin des Landgerichts informiert regelmäßig über das, was hinter verschlossenen Türen passiert. Auch Staatsanwaltschaft, Verteidiger und der Anwalt des getöteten Jungen schildern auf Anfrage ihre Sicht. Sie bemühen sich um einen sachlichen Ton. Doch je nach Rolle, die sie im Prozess einnehmen, weichen die juristischen Wertungen teils stark voneinander ab. Für das Geschehen in dem Gebüsch gibt es keine Zeugen.
Jugendlicher tötete Mitschüler in Lohr am Main
Was fest steht: Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Angeklagte den Schuss abgegeben hat. Der Jugendliche drückte von hinten ab, in Richtung des Kopfes. Das hat der Angeklagte am zweiten Prozesstag gestanden. Seitdem beschäftigen das Gericht das Motiv und der Tathergang. Davon hängt ab, ob die Tat als Mord oder Totschlag zu werten ist. Die Staatsanwaltschaft hält am Vorwurf des Mordes fest. Durch den Schuss von hinten in den Kopf handele es sich um eine heimtückische Tat. Laut einem Gutachten befand sich das Opfer in einer knienden oder kauernden Haltung. Die Staatsanwaltschaft fordert acht Jahre und neun Monate Jugendstrafe. Außerdem soll ein Psychiater prüfen, ob eine anschließende Sicherungsverwahrung erforderlich ist.
Verteidiger werten Tat als Totschlag
Die Verteidiger sehen das anders. Demnach soll es in dem Gebüsch einen Streit und ein anschließendes Handgemenge gegeben haben. Infolgedessen sei der Schuss gefallen – gezielt, aber keineswegs geplant. "Ich halte das für die wahrscheinlichste Variante", sagt Verteidiger Hans-Jochen Schrepfer nach Ende der Beweisaufnahme. Er und seine Kollege Roj Khalaf bezweifeln den Mordvorwurf. Aus ihrer Sicht handelte es sich um Totschlag. Sie halten sechs Jahre Jugendstrafe für angemessen – ohne die Option einer anschließenden Sicherungsverwahrung. Dafür gebe es keine Rechtsgrundlage.
Motiv für Schuss weiterhin unklar
Doch das exakte Motiv des Angeklagten bleibt immer noch unklar. Der Jugendliche will sich derzeit nicht von einem Psychiater begutachten lassen. "Auch ich als Nebenklage-Vertreter tappe im Dunkeln", sagt Rechtsanwalt Norman Jacob (sen.), der die Eltern des Opfers in dem Verfahren begleitet.
Die Verteidiger des Angeklagten halten es für wahrscheinlich, dass in der Nähe des Schulzentrums ein Tauschgeschäft erfolgen sollte. Laut Zeugenaussagen wollte sich das Opfer bei einem Bekannten kurz vor der Tat mehrere hundert Euro leihen. Der Angeklagte gab an, dass er plante in dem Gebüsch die Pistole an das spätere Opfer zu verkaufen. Dabei sei es zu dem Handgemenge gekommen.
Ob es sich bei dem möglichen Tauschgeschäft aber auch um einen Vorwand gehandelt haben könnte? Ein fingiertes Treffen mit dem Ziel zu töten? Aus Sicht der Verteidiger gibt es nichts, was darauf hindeuten würde.
Schütze kannte Aufenthaltsort der Waffe
Zugelassen war die halbautomatische Selbstladepistole auf einen Nachbarn des jugendlichen Schützen. Zumindest an dieser Stelle gibt es inzwischen mehr Klarheit als zu Prozessauftakt. Der 66 Jahre alte Nachbar und der Jugendliche sollen nach Angaben der Prozessbeteiligten ein enges Verhältnis gepflegt haben. Der Schütze wusste wohl, wo sich der Waffenschrank und der Schlüssel dazu befanden. Zum Tatzeitpunkt lag der Nachbar schwer krank im Krankenhaus. Kurz nach der Tat ist er verstorben. Seine Wohnung soll nicht abgesperrt gewesen sein. Deshalb fanden die Ermittler auch keine Einbruchsspuren.
Vorwurf der Mordlust erhärtet sich nicht
Ebenfalls geklärt ist ein Vorwurf, auf den sich die Staatsanwaltschaft zu Prozessbeginn sogar in ihrer Anklage berufen hatte. Auf Basis der Ermittlungen hieß es: Der Angeklagte habe sich den US-amerikanischen Serienmörder Jeffrey Dahmer zum Vorbild genommen. Diese Theorie erhärtete sich im Prozess nicht. Vom Vorwurf der Mordlust ist die Staatsanwaltschaft inzwischen abgerückt.
Die Vertreter der Familie des Opfers haben sich den Forderungen der Staatsanwaltschaft angeschlossen. Auch sie werten das Geschehen als Mord aus Heimtücke. Die Tat hat die Eltern des Opfers psychisch stark belastet, erklärt Rechtsanwalt Norman Jacob. Das Urteil will das Landgericht Würzburg am heutigen Montag verkünden.
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