NSU-Opfer Mehmet O. in seinem Wohnzimmer
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NSU-Opfer Mehmet O. in seinem Wohnzimmer

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Heute vor 25 Jahren: Das Rätsel um den ersten NSU-Anschlag

Heute vor 25 Jahren verübte die rechtsextreme Terrorzelle NSU ihren ersten Anschlag in Nürnberg. Bis heute ist die Tat nicht restlos geklärt. Doch es gibt wichtige Spuren. Und interessante Schilder zum Gedenktag.

Über dieses Thema berichtet: Regionalnachrichten Franken am .

Als am 23. Juni 1999 in der Pilsbar "Sonnenschein" in der Nürnberger Scheurlstraße nahe dem Hauptbahnhof eine Taschenlampe explodiert und den damals 18-jährigen Kneipenwirt Mehmet O. (Name geändert) verletzt, ahnt niemand, dass hinter dem Anschlag eine rechtsextreme Terrorzelle steckt. Tatsächlich war das Attentat der Auftakt einer beispiellosen Verbrechensserie in Deutschland, bei der der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) von 2000 bis 2007 zehn Menschen tötete, drei alleine in Nürnberg.

Viele Fragen zum Attentat nach wie vor ungeklärt

Auch 25 Jahre nach der Taschenlampen-Explosion sind die Hintergründe unklar. Wer wählte die Gaststätte als Ziel und Mehmet O. als Opfer aus? Wer war an der Tat beteiligt? Organisationen wie die Initiative "Das Schweigen durchbrechen" wollen deshalb am heutigen Jahrestag nicht nur der Opfer gedenken, sondern für die vollständige Aufklärung des NSU-Komplexes demonstrieren. "Besonders freuen wir uns, dass Mehmet dieses Jahr selbst anwesend sein wird. Während der Taten haben Medien, Politik und Sicherheitsbehörden die Opfer und Hinterbliebenen kriminalisiert und ihnen nicht geglaubt", sagt Ina Schweiger von der Initiative.

"Verkehrsschilder der Gerechtigkeit" am Tatort

Die Stadt Nürnberg lässt in der Scheurlstraße über das Wochenende die "Verkehrsschilder der Gerechtigkeit" des Konzept-Künstlers und Kulturpreisträgers Johannes Volkmann, aufstellen, die er in einem Projekt mit dem Staatstheater und dem Menschenrechtsbüro der Stadt entwickelt hat: Angelehnt an die Bildsprache im Straßenverkehr, appellieren die Schilder an die Einhaltung von Werten für ein respektvolles Miteinander.

Oberbürgermeister trifft sich mit Anschlagsopfer Mehmet O.

Oberbürgermeister Marcus König (CSU) wird dem Wunsch von Mehmet O. folgen und sich privat mit ihm treffen. "Was dem jungen Mann damals angetan wurde, lässt sich nicht heilen, und es macht mich noch heute fassungslos, mit welcher Brutalität und gleichzeitig Feigheit diese menschenverachtende Tat begangen wurde", sagt König.

Martina Mittenhuber, die Leiterin des Nürnberger Menschenrechtsbüros, kündigt an, dass, sobald die Bauarbeiten in der Scheurlstraße beendet sind, dort eine Erinnerungstafel aufgestellt wird. Bisher weist nur eine kleine Tafel am Haus der ehemaligen Pilsbar auf die Ereignisse von 1999 hin. Tatsächlich war erst 14 Jahre später herausgekommen, wie alles zusammenhängt: Im Juni 2013 hatte ein Mitangeklagter der NSU-Terroristin Beate Zschäpe im Münchner Prozess gestanden, dass deren Vertraute - Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos - ihm erzählt hätten, in Nürnberg "eine Taschenlampe aufgestellt" zu haben.

Mehmet O. überlebte nur, weil Bombe nicht richtig zündete

Der junge Pächter mit türkischem Migrationshintergrund hatte damals beim Reinigen des Lokals die Lampe in der Herrentoilette entdeckt und neugierig eingeschaltet. Eine Druckwelle schleuderte ihn bis zur Eingangstür. Er trug Splitter im Arm und zahlreiche Schnittwunden davon und überlebte wohl nur, weil der Sprengsatz nicht richtig zündete, wie der Bericht des LKA-Sprengstoff-Dezernats 1999 festhielt.

Nach der Explosion ermittelten die Beamten gegen das Opfer Mehmet O. und sein Umfeld – ein politischer Hintergrund wurde schnell ausgeschlossen. Die Tat wurde zudem als "fahrlässige Körperverletzung" eingestuft, obwohl es sich offenbar um ein Attentat mit Tötungsabsicht handelte. Die Ermittlungen verliefen im Sande. Zermürbt verließ Mehmet O. schließlich im Jahr 2004 Franken.

Opfer erfuhr durch BR/NN-Rechercheteam brisantes

Doch im Juni 2013, nach der brisanten Aussage im NSU-Prozess, suchten Beamte des Bundeskriminalamtes Mehmet O. auf und legten ihm 115 Bilder von Beschuldigten und Verdächtigen im NSU-Verfahren vor. O. tippte schließlich überrascht auf das Bild einer Frau und sagte: "Die kenne ich, dieses Mädchen geht mir nicht mehr aus dem Kopf!"

Erst vom gemeinsamen Rechercheteam des Bayerischen Rundfunks und der Nürnberger Nachrichten, das Mehmet O. ausfindig machte, erfuhr er den gesamten Hintergrund: Er hatte Beate Zschäpes enge Freundin Susann E. identifiziert. "Es war ein Schock für mich", gesteht O. Woher er Susann E. kannte, weiß er nicht mehr genau: "Vielleicht war sie in meinem Laden drinnen. Irgendwie ist sie mir bekannt, ich sage das ja nicht umsonst." Dass Susann E. zu dem Zeitpunkt in Nürnberg war, gilt mittlerweile als unwahrscheinlich. Sie hatte zum Zeitpunkt des Attentats laut BKA-Ermittlern noch "keinen Kontakt zum NSU-Kerntrio".

Bundesanwaltschaft erhob dieses Jahr erneut NSU-Anklage

Inzwischen hat der Generalbundesanwalt Anklage gegen Susann E. erhoben. Der Mittvierzigerin aus Sachsen wird Unterstützung der rechtsterroristischen Vereinigung vorgeworfen und Beihilfe zu einer schweren räuberischen Erpressung mit Waffen. Nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft soll Susann E. "spätestens Anfang des Jahres 2007" gewusst haben, dass Mitglieder des NSU unter falschen Identitäten im Untergrund lebten "und zu diesem Zeitpunkt bereits rassistisch motivierte Morde sowie Banküberfälle begangen hatten".

Die zu lebenslanger Haft verurteilte Beate Zschäpe hatte jüngst im Gefängnis Ermittlern berichtet, dass das Schwarzpulver, das Böhnhardt und Mundlos im Untergrund gehortet hatten, immer weniger geworden sei. In den Resten der Taschenlampe in der Scheurlstraße hatten Experten Schwarzpulver gefunden.

Taschenlampenattentat bis heute nicht juristisch aufgearbeitet

Der Fall des Taschenlampenanschlags ist bis heute juristisch nicht aufgearbeitet. Im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München war der Anschlag im Dezember 2014 Thema. Das Gericht entschied sich jedoch dazu, das Attentat aus "verfahrensökonomischen Gründen" nicht in die Anklage aufzunehmen. Dieser Anschlag würde in Bezug auf eine Verurteilung der damals Angeklagten nicht ins Gewicht fallen, so die Begründung. Für Mehmet O. ist das noch heute ein herber Rückschlag.

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Ein Kripo-Beamter untersucht 1999 den Tatort in der Scheurlstraße

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