Als der Alarm kommt, weiß Notarzt Daniel Merten noch nicht, was ihn am Einsatzort erwartet. Am 22. Januar wird er in den Park Schöntal in Aschaffenburg gerufen.
Auf dem Weg dorthin läuft er an Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag vorbei. Dann kommen ihm Rettungssanitäter mit einem schreienden Mädchen entgegen. Vom Parkeingang bis zum Einsatzort sind es nur wenige hundert Meter – als er ankommt, versuchen Rettungskräfte gerade, einen Mann zu reanimieren. Auf so einen Einsatz kann man sich nicht vorbereiten, sagt Merten.
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Tödlicher Messerangriff in Aschaffenburg
An dem Tag hatte ein psychisch kranker Mann mitten am Tag im Park Schöntal in Aschaffenburg eine Kindergruppe mit einem Küchenmesser angegriffen. Ein 41-jähriger Mann war dazwischen gegangen. Er und ein zweijähriger Junge starben. Der Täter: ein 28-Jähriger, der aus Afghanistan stammt. Drei Menschen, darunter ein zweijähriges syrisches Mädchen, wurden teils schwer verletzt.
Bilder, die der Leitende Notarzt nicht vergisst
"Kinder zu erstechen ist was, das kam bis zu diesem Tag nicht in meiner Welt vor", sagt Notarzt Daniel Merten. Seit 25 Jahren arbeitet er als Notarzt. Doch der Einsatz im Park Schöntal in Aschaffenburg habe ihn an seine Belastungsgrenze gebracht. "Ich habe früher nicht weit von hier gewohnt und bin mit meinen Kindern zu dem Spielplatz da drüben gegangen." Vor Ort funktioniert er. "Ich bin ja nicht da, um betroffen zu sein, sondern um meinen Job zu machen, um den Menschen zu helfen", so Merten.
Psychische Belastung für Einsatzkräfte sehr hoch
Als alle Opfer und Verletzten versorgt sind, geht er nach Hause. Doch ein Bild lässt ihn nicht los: "Die drei Kinder, die eine Stunde in dem Bollerwagen gesessen haben, ohne sich zu bewegen, ohne was zu sagen, kreidebleich."
Doch nicht nur Bilder, auch Schlaflosigkeit, Rückzug, Überlastung können Anzeichen dafür sein, dass ein Einsatz belastend war. Aber kein Zeichen von Schwäche. Das zu betonen, ist Lothar Fiedler ganz wichtig: Er leitet ehrenamtlich die psychosoziale Notfallversorgung der Malteser in Aschaffenburg, kurz PSNV. Das heißt, er koordiniert psychische Erste Hilfe – auch für Einsatzkräfte steht dieses Angebot zur Verfügung.
Hilfe für Helfer unmittelbar nach dem Einsatz
"Zuallererst nehme ich das Telefon in die Hand und frage: Wie ist es dir ergangen? Wollen wir uns treffen? Am Telefon hört man oft schon, wie die Einsatzkraft mit dem Ereignis umgeht", erklärt Lothar Fiedler. Alternativ sind solche Einzelgespräche über eine Hotline möglich. Auch das Rote Kreuz, die Johanniter-Unfallhilfe, der Arbeiter-Samariter-Bund und die beiden Kirchen haben so ein Team parat, um nach extremen oder belastenden Einsätzen Betroffene, Opfer, aber eben auch die Rettungskräfte zu betreuen – und gegebenenfalls an Profis der Trauma- oder Psychotherapie weiterzuvermitteln.
Ausbildung zum Notfallseelsorger für Einsatzkräfte an staatlichen Feuerwehrschulen in Bayern
Diese Akuthilfe, im Fachjargon sekundäre Prävention genannt, für Einsatzkräfte nach belastenden Einsatzsituationen in Bayern werde laufend überprüft und bewertet, heißt es vom Bayerischen Innenministerium auf Anfrage von BR24. Qualitätsstandards können im Blick behalten werden, indem die Ausbildung zum Fachberater PSNV-E ("psychosoziale Notversorgung für Einsatzkräfte") seit 2012 über einheitliche Lehrgänge an den staatlichen Feuerwehrschulen angeboten wird. Ansonsten obliege die Weiterentwicklung und konkrete Ausgestaltung der PSNV-E den Arbeitgebern, so ein Sprecher des Bayerischen Innenministeriums.
Für Lothar Fiedler ist aber nicht nur das Eins-zu-Eins-Gespräch mit einer ausgebildeten PSNV-Kraft wichtig. Auch die unmittelbare Einsatznachbesprechung kann einer langfristigen psychischen Belastung zuvorkommen. Das heißt, mit Kolleginnen und Kollegen über das Erlebte sprechen, könne schon helfen.
Notarzt über den Messerangriff: "Wie im Krieg"
Zurück im Park Schöntal in Aschaffenburg. Notarzt Daniel Merten hat das Angebot der psychosozialen Notfallversorgung nicht wahrgenommen. Ein paar Tage nach dem Messerangriff hat er den Notarzt-Kollegen getroffen, der auch dabei war. Er beschreibt ihn als routinierten, erfahrenen Notarzt, der seit Jahrzehnten in dem Beruf arbeitet. "Ich habe gefragt, wie es ihm geht, wie er den Einsatz im Schöntal empfunden hat. Und selbst er meinte: 'Daniel, das war schrecklich, das war wie im Krieg.'"
Zu hören, dass er mit seinen belastenden Bildern nach dem 22. Januar nicht alleine ist, dass es anderen genauso ging, half ihm. "Und dem Kollegen hat es sicher auch gutgetan, darüber zu reden." Denn nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz. Und nur mit Präventiv-Maßnahmen und Sensibilisierung für die eigene psychische Gesundheit können Einsatzkräfte Resilienz entwickeln, um bald wieder anderen helfen zu können.
Zahlreiche Kerzen und Blumen liegen zum Gedenken an die Opfer des tödlichen Messerangriffs im Park Schöntal am Boden.
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