Anfang Februar im Aschaffenburger "Kindernest": Stille statt Kinderlachen. Aufgeräumte Spielsachen. Ein Zettel im Fenster: Das Kindernest bleibe "bis auf Weiteres geschlossen". Die Kindergruppe wurde im Januar bei einem Spaziergang im nahegelegenen Park attackiert. Ein zweijähriger Junge starb. Ein zweijähriges Mädchen wurde schwer verletzt. Die Familien sind ebenso in psychologischer Betreuung wie die Erzieherinnen, die die brutale Tat mit ansehen mussten. Ähnlich war es nach dem Messerangriff mit drei Toten in Würzburg. Und es gibt viele weitere Parallelen zu der Tat im Sommer 2021.
Beide Täter waren männlich, um die 30, geflüchtet. Beide nutzten Küchenmesser als Tatwaffen und wählten Schwächere als Opfer. Der Würzburger Täter griff überwiegend Frauen an, der Aschaffenburger Täter Kinder. Beide waren bereits vor den Taten wiederholt in der Psychiatrie und der Polizei aufgefallen. Warum also waren sie auf freiem Fuß?
Psychiater: Täter durften nicht festgehalten werden
Der Würzburger Täter ist derzeit genau wie der Aschaffenburger Täter in der Forensik im unterfränkischen Lohr untergebracht. Vor den Messerattacken wurden beide nicht dauerhaft in der Psychiatrie festgehalten. Die Voraussetzungen waren nicht gegeben, versichert Prof. Dominikus Bönsch, Direktor des Bezirkskrankenhauses in Lohr.
Beim Würzburger Täter gab es auch im Prozess keine Anzeichen klinischer Versäumnisse. Der Aschaffenburger Täter befand sich zweimal, kurzzeitig in einer Klinik, die Bönsch untersteht. Ob es eine Möglichkeit gab ihn festzuhalten? "Die Frage hat sich überhaupt nicht gestellt", sagt Bönsch nach Sichtung der Akten.
Hohe Hürden für Behandlung unter Zwang
Schon nach der Amoktat in Würzburg hatte Bönsch im BR-Gespräch eine Diskussion darüber gefordert, wie Menschen in Einzelfällen "notfalls auch mal gegen ihren Willen" geholfen werden kann. Dabei geht es ihm nicht darum, mehr Patientinnen und Patienten in den ohnehin ausgelasteten Kliniken festzuhalten, sagt der Klinikdirektor. Vielmehr bräuchte es in Einzelfällen auch Möglichkeiten für Zwangsbehandlungen außerhalb der Kliniken – etwa um sicherzustellen, dass Betroffene im Alltag ihre Medikamente nehmen.
Rechtlich ist das derzeit nicht möglich. Daran hat sich seit der Messerattacke in Würzburg nichts geändert. Das bestätigt auch das Bayerische Sozialministerium. Das Ministerium wolle nun prüfen, was bei potenziell fremdgefährdenden Menschen möglich sein könnte – ohne diese festzuhalten.
Im Video: "Immer wieder Messerattacken: Fallen Täter durchs Raster?"
Polizeigewerkschafter: Justiz zu lasch
Mit Blick auf die Parallelen zwischen den Messerattacken in Würzburg und Aschaffenburg beklagt die Deutsche Polizeigewerkschaft eine zu lasche Justiz. Vor allem der Aschaffenburger Täter war der Polizei schon vorher mehrfach aufgefallen – unter anderem wegen Körperverletzung. In nicht einmal zwei Jahren hat es nach Angaben des Bayerischen Innenministeriums 22 Vorwürfe gegen den Mann gegeben. Doch in Haft musste er nicht.
Kein Einzelfall, sagt Thorsten Grimm, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft: "Wir haben diese Fälle zuhauf." Unabhängig von der Herkunft müssten Täter mehrere Straftaten begehen, bis es "spürbare Konsequenzen" gebe – gerade bei niederschwelligen Delikten. Neue Strafgesetze brauche es nicht: "Wir haben nur ein Problem in der Umsetzung dieser Gesetze." Außerdem fordert der Gewerkschafter Änderungen im Asylrecht.
Flüchtlingshelfer wünschen sich Koordinierungsstelle
Und es gibt noch eine weitere Parallele: Beide Täter lebten in Sammelunterkünften. Dort übernehmen häufig Ehrenamtliche wichtige soziale Arbeit. So auch beim "Freitagscafé" in der Gemeinschaftsunterkunft Aschaffenburg. Den Täter kannten sie hier nicht, er lebte einige Kilometer entfernt. Das "Freitagscafé" ist kein psychologisches Angebot. Die Ehrenamtlichen bieten einen Treffpunkt, haben ein offenes Ohr für die Probleme der Geflüchteten. Aber: "Wenn jemand enorm psychisch erkrankt ist, wenn er eine Psychose entwickelt hat oder so, dann sind wir natürlich absolut überfordert", sagt Pierre Gruber, einer der Initiatoren.
Deshalb wünscht sich der Helferkreis eine Koordinationsstelle, wo Ärzte und Behörden zusammenarbeiten. Zumindest in Aschaffenburg gebe es die nicht. Mancherorts in Bayern gibt es sogenannte psychosoziale Zentren – Beratungsstellen für Geflüchtete. Doch das Bayerische Innenministerium sagt: Um diese auszubauen, fehlt Geld.
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