Ein 14-jähriger Junge will sein Fahrrad an einem Trampelpfad über die Gleise tragen. Es verhakt sich in einem Zwischenraum. Während er versucht, es herauszuziehen, naht ein Zug. Der Zugführer setzt das Warnsignal ab und leitet die Notbremsung ein. Der Junge rettet sich von den Gleisen. Doch der Zug erfasst sein Rad und schleift es mehrere Hundert Meter mit. Verletzt wurde niemand.
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Auch Jahrzehnte später kann Schmerzensgeld fällig werden
Diese Geschichte erzählt Michaela Hofmeister immer wieder, wenn sie vor Schulklassen steht. Dabei geht es nicht nur um die Gefahr - auch Kriminalprävention gehört zum Job der Bundespolizistin von der Polizeiinspektion Freilassing. Denn was der Junge aus der Erzählung nicht wusste: Er beging eine Straftat, für die Personen ab 14 Jahren belangt werden können. Der Tatbestand: gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr.
"Kinder schauen oft auf den Fahrplan und denken, auf der Strecke fährt dann kein anderer Zug mehr", sagt Hofmeister. In dem Unterricht der Bundespolizistin geht es auch um die finanziellen Konsequenzen. Etwa wenn Kinder Gegenstände auf die Gleise legen und eine Vollbremsung provozieren. Wenn sich Zugreisende bei der Bremsung verletzen oder Schäden am Zug entstehen, können auch noch 30 Jahre nach dem Vorfall Schmerzensgeldforderungen an die inzwischen erwachsenen Verursacher gestellt werden.
Besonders viele Vorfälle auf Nebenstrecken
Das Bayerische Landesamt für Statistik erfasst Zugunfälle mit Personenschaden quer durch Bayern. Die gute Nachricht: In den vergangenen drei Jahren kam es in Bayern zu weniger als 30 Unfällen pro Jahr - zwischen 23 und 28. Dabei zählen die Unfälle an beschrankten und unbeschrankten Bahnübergängen zusammen. Die Unfallzahlen mit Personenschaden im gesamten bayerischen Schienennetz sind also etwa gleich geblieben.
Doch auf Nebenstrecken, wie etwa im Streckennetz der Bayerischen Regiobahn (BRB) zwischen Traunstein und Ruhpolding, Freilassing und Bad Reichenhall sowie zwischen Bad Reichenhall und Berchtesgaden hat die BRB in den vergangenen zwei Jahren 30 Schnellbremsungen wegen Fahrradfahrern und Fußgängern gezählt. Tendenz steigend.
Bremsweg von Zügen bis zu ein Kilometer lang
Solche Vorfälle erleben Lokführer mehrmals im Jahr, sagt Markus Köfler. Sei es mit spielenden Kindern, Fußgängern oder Fahrradfahrern. Köfler ist seit 30 Jahren als Triebfahrzeugführer für die Bayerische Regiobahn (BRB) zwischen Salzburg und München unterwegs. Auf Nebenstrecken passieren ihm zufolge die sogenannten "Beinahe-Unfälle" noch häufiger - wenn also der Triebfahrzeugführer eine Notbremsung bis zum Stillstand einleiten muss, um einen Unfall zu vermeiden. Köfler berichtet von einer ganzen Reihe von Schrecksekunden, in denen er einen Zusammenstoß befürchtete, und von Schockmomenten, in denen er tödliche Unfälle nicht mehr verhindern konnte.
Markus Köfler erlebt, dass Fußgänger und Radfahrer gerade auf Nebenstrecken die Gefahr unterschätzen, weil Züge dort langsamer fahren, aber trotzdem lange brauchen, um zum Stillstand zu kommen. Außerdem sind die Bahnübergänge entlang der Strecken oft unbeschrankt. Ungeduld und Unaufmerksamkeit seien beim Überqueren der Gleise besonders schlechte Wegweiser, sagt Köfler. Laut Bahnbetreibern kann der Bremsweg eines Zuges je nach Geschwindigkeit, Zuglänge und damit Gewicht sowie Witterung bis zu einen Kilometer betragen.
Zugnotbremsung soll Schüler warnen
Die Bayerische Regiobahn hat Ende Juni einen Aktionstag im Berchtesgadener Land abgehalten. Am Bahnhalt in Ainring auf der Strecke Freilassing-Berchtesgaden führte das Bahnunternehmen eine Zugnotbremsung vor. Die Schüler einer örtlichen Jungen-Realschule sollten den Bremsweg einschätzen und sich entsprechend am Bahnsteig platzieren.
Daraufhin leitete der Triebfahrzeugführer einer einzelnen Lok bei etwa 90 km/h die Vollbremsung ein. Mit durchdringendem Pfeifen fuhr er an den meisten Kindern vorbei und kam erst nach etwa 220 Metern zum Stehen. Hätte es geregnet, wären mindestens 300 Meter hinzugekommen. Die meisten Kinder lagen mit ihrem Tipp komplett daneben. Allein auf dieser Strecke gab es im ersten Halbjahr 2024 bereits sieben Schnellbremsungen. "Wer einmal erlebt hat, wie lange es dauert, bis ein Zug zum Stehen kommt, wird künftig vorsichtiger sein", sagte BRB-Geschäftsführer Arnulf Schuchmann am Bahnübergang.
Starker Sog eines vorbeifahrenden Zuges
Erwachsene seien dabei oft keine Vorbilder für Kinder, denn auch sie nutzten Trampelpfade als Abkürzung oder schlüpften schnell unter den geschlossenen Schranken hindurch. Nach Angaben der BRB sind Erwachsene deutlich häufiger Unfallverursacher. Deshalb betreiben die Deutsche Bahn Sicherheit mit ihrem Infomobil, der ADAC, aber auch die Bundespolizei Präventionsarbeit.
Durch die Unterbrechungen im Fahrplan kommt es schließlich auch zu Verspätungen und Streckensperrungen. Wie etwa im März dieses Jahres, als die Strecke Freilassing-Mühldorf am selben Tag zweimal wegen spielender Kinder am Gleis gesperrt werden musste. "Wer die Gleisanlagen zu seinem Spielplatz macht, befindet sich in höchster Lebensgefahr", warnte damals die Bundespolizei, die mit zwei Streifen auf der Suche nach den Kindern war. Selbst beim Aufenthalt neben den Gleisen kann der Sog eines vorbeifahrenden Zuges Menschen unter den Zug ziehen. Deshalb sollten Reisende am Bahnsteig immer hinter der Sicherheitslinie bleiben.
Im Video: Unterschätzte Gefahren am Bahnübergang
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