Der Anschlag von München, vor nun vier Wochen, das sei so etwas wie der Worstcase, erinnert sich Christian Wolf vom Kriseninterventionsteam München, kurz KIT. Während Wolf nachdenklich erzählt, sitzt er an einem Tisch in der Wache des Arbeiter-Samariterbundes (ASB). Von dort rücken er und seine Kollegen zu ihren Einsätzen aus. So auch am 13. Februar.
Augenzeugen unter Schock
Neben Feuerwehr und Rettungsdienst werden an diesem Tag auch Christian Wolf und seine Kolleginnen und Kollegen vom KIT München alarmiert. Der Grund: Ein junger Mann ist mit seinem Auto in eine Demonstration der Gewerkschaft Verdi gefahren. Eine Mutter und ihr zweijähriges Kind sterben zwei Tage später in einem Münchner Krankenhaus. Rund 40 Menschen werden bei dem Anschlag teils schwer verletzt. Feuerwehr und Rettungsdienste rufen deswegen einen sogenannten MANV-Alarm aus. "MANV" steht für Massenanfall von Verletzten.
Im Video: So betreute das KIT die Augenzeugen des Anschlags
Rettungssanitäter kommen, wenn der Körper verletzt ist. Aber wer kümmert sich um seelische Wunden? Das Kriseninterventionsteam
Das KIT kümmert sich um Augenzeugen und Hinterbliebene
Doch an diesem 13. Februar zählen nicht nur die körperlich Verletzten zu diesem MANV-Alarm, sondern auch die Augenzeugen. Denn viele Demo-Teilnehmer müssen die Tat mitansehen. Für sie hat die Polizei unweit des Tatorts, im nahe gelegenen Löwenbräukeller, eine "Zeugensammelstelle" eingerichtet. Während Polizeibeamte die Aussagen der Augenzeugen dort aufnehmen, kümmert sich ein Kriseninterventions-Team um diejenigen, die zwar körperlich unverletzt geblieben sind, aber trotzdem psychischen Beistand brauchen.
"Ich bin jetzt für Sie da, ich hab' Zeit für Sie"
Als Christian Wolf an dem Vormittag im Münchner Löwenbräukeller ankommt, wird er von seinem Einsatzleiter an einen Tisch geführt, an dem drei Augenzeugen sitzen, die seelisch überfordert sind. "Ich bin dann hingegangen, hab mich kurz vorgestellt, und hab gesagt: 'Ich bin jetzt für Sie da, ich hab' Zeit für Sie.' Das ist das, was wir normalerweise sagen, wenn wir zu Betroffenen kommen", erklärt Christian Wolf mit ruhiger, sonorer Stimme.
Die Augenzeugen fragen sich im Gespräch mit Wolf, warum es sie nicht erwischt hat, wie es den anderen wohl geht. Alles Fragen, sagt Wolf, die einen Menschen bewegen, wenn man Dinge erlebt, die sich nicht recht begreifen lassen.
Während Wolf die Augenzeugen betreut, kümmern sich andere KIT-Mitglieder um die Angehörigen der schwerverletzten Frau und des schwer verletzten Kindes. Beide ringen zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Leben.
Wie hilft man Menschen in psychischen Ausnahmesituation?
Erst einmal gilt es, für Betroffene da zu sein, ihnen zuzuhören. Das sei das Wichtigste, so Wolf. Menschen in einer Extremsituation sind überfordert – und wissen nicht, was zu tun ist. Eine völlig normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis, erklärt der erfahrene Krisenhelfer. Die Mitarbeiter des KIT stehen deshalb an der Seite der Betroffenen, auch über den Tag hinaus. Sie helfen mit Beratungsangeboten, damit die Menschen Stück für Stück wieder ins selbstbestimmte Leben zurückfinden.
"Ich hab nur noch geheult und den Kopf geschüttelt"
Wie gut die Hilfe des KIT wirkt, hat Mia vor einigen Monaten selbst erfahren. Die 28-Jährige verlor überraschend ihre beste Freundin. Der Schock saß tief. "Ich konnte in dem Moment nicht mehr klar denken, habe nur noch geheult und den Kopf geschüttelt", erzählt sie. "Und dann ist da jemand, der so ruhig ist, dass man fast überrascht ist". Dieser Mensch bringe einen zum Durchatmen.
Diese psychische Ausnahmesituation beschreibt Mia wie einen vollen Schreibtisch, der plötzlich mit einem Handstreich abgeräumt wird. Es seien dann die Mitarbeiter des KIT gewesen, die mit ihr zusammen nach einer Weile Schritt für Schritt den Schreibtisch wieder aufbauen und jeden Stift dahin legen, wo er vorher gewesen sei.
Rund 2.000 Einsätze pro Jahr
Die Arbeit und die Beratungen durch das KIT sind für die Betroffenen kostenlos. Die Dienstfahrzeuge mit Blaulicht und die persönliche Schutzausrüstung der Helfer finanziert der Arbeiter Samariter-Bund zu einem großen Teil durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Jedes Jahr rückt das KIT-München zu rund 2.000 Einsätzen aus. Diese Krisen-Arbeit leisten alle Helfer ehrenamtlich – neben ihrem Alltagsjob.
Hinweis der Redaktion: Hilfe in Krisen
Sollten Sie selbst in einer psychischen Ausnahmesituation sein und Hilfe benötigen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Beratung erhalten Sie unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222. Online: https://www.telefonseelsorge.de/ (Chatberatung und Mailberatung)
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