Am Kraut der Kartoffelpflanze ist es zuerst zu erkennen: Die Blätter rollen sich ein und verfärben sich. Dann werden irgendwann die Kartoffeln weich und schrumpelig – sogenannte Gummiknollen. Andere bleiben schlicht zu klein. Für die Landwirte bedeutet das: enorme Ertragseinbußen, teilweise bis zu 50 Prozent. Ursache dafür sind die beiden Bakterien Stolbur und SBR. Übertragen werden sie von der Schilf-Glasflügelzikade – einem nicht mal einen Zentimeter großen Insekt.
Auch Zuckerrüben sind betroffen, hier ist der Erregerkomplex schon länger bekannt – vor allem südlich von Würzburg, rund um die Zuckerrübenfabrik Ochsenfurt. Doch inzwischen hat die Schilf-Glasflügelzikade auch die Kartoffeln als Wirtspflanze entdeckt und breitet sich immer weiter aus – rund 30 Kilometer wandert sie laut Expertenschätzungen pro Jahr.
Schilf-Glasflügelzikade auch in Schwaben und Altbayern
So ist der Schädling inzwischen auch in Schwaben und Altbayern angekommen, berichtet Luitpold Scheid vom Institut für Pflanzenschutz an der Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL) in Freising. Vor allem im nördlichen Oberbayern nimmt die Dichte der Schilf-Glasflügelzikade deutlich zu. Hier spielen Kartoffeln eine weitaus größere Rolle als in der Region um Ochsenfurt. Gleichzeitig werden dort auch Zuckerrüben angebaut – beide Kulturen sind Wirtspflanzen für die Schilf-Glasflügelzikade, die somit ideale Entwicklungsbedingungen vorfindet.
Scheid befürchtet, dass der Kartoffelanbau in Bayern in seinen Hauptanbaugebieten in Zukunft massiv eingeschränkt oder gar aufgegeben wird – wenn die Schäden an den Kartoffeln so stark zunehmen, dass es für die landwirtschaftlichen Betriebe nicht mehr wirtschaftlich ist.
"Existenzbedrohend" für kartoffelverarbeitende Industrie
Auch die kartoffelverarbeitende Industrie ist extrem besorgt, so etwa das Unternehmen Burgis in Neumarkt in der Oberpfalz oder Südstärke mit Produktionsstandorten in Sünching und Schrobenhausen. "Wenn unser Rohstoff nicht mehr verfügbar ist, ist das existenzbedrohend", erklärt Burgis-Geschäftsführer Timo Burger. Beide Unternehmen beziehen ihren Rohstoff von Landwirten und Landwirtinnen aus der jeweiligen Umgebung.
Deren Kartoffeln waren bisher noch nicht betroffen – noch, betonen beide Unternehmen. Sie rechnen mit einer weiteren Ausbreitung der Schilf-Glasflügelzikade und den damit verbundenen Krankheiten. Als Alternative einfach Kartoffeln aus weiter entfernten Regionen zu beziehen, lohne sich nicht, wegen der hohen Transportkosten, so Burger.
Zikade greift über auf Karotten und Rote Beete
Das sieht Helen Pfitzner, Koordinatorin der Zikadenforschung vom Verband der Hessisch-Pfälzischen Zuckerrübenanbauer e.V. und der Union der Deutschen Kartoffelwirtschaft e. V. (UNIKA), ähnlich: "Die regionale Verarbeitung, Versorgung und Züchtung sowie Vermehrung der Kartoffeln wird existenziell gefährdet." Eine Versorgung der Bevölkerung aus Importen sei kaum vorstellbar.
Mit Kartoffel und Zuckerrübe ist für die Schilf-Glasflügelzikade auch nicht Schluss. Wie der Verband der Hessisch-Pfälzischen Zuckerrübenanbauer Ende September bekanntgegeben hat, hat sie nun auch Karotten und Rote Bete für sich entdeckt: "Die jetzt festgestellte Erweiterung des Wirtspflanzenspektrums auf Karotten und Rote Bete bedeutet eine große Gefahr für die nachhaltige Versorgung mit wertvollen frischen pflanzlichen Nahrungsmitteln in Deutschland", so der Verband.
Bisher keine wirksamen Pflanzenschutzmittel
Wirksame Pflanzenschutzmittel gibt es bisher keine. Die Forschung zur Schilf-Glasflügelzikade – insbesondere zu deren Auswirkungen im Kartoffelanbau – steht noch ziemlich am Anfang. An der Universität Regensburg forschen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen derzeit an einem RNA-basierten Pflanzenschutz, bei dem selektiv lebenswichtige Gene des Insekts ausgeschaltet werden sollen.
Auch die LfL versucht mit verschiedenen Projekten, das Insekt besser kennenzulernen oder führt Sortenversuche durch. "Frühkartoffeln sind weniger betroffen", erklärt Landwirt Reiner Lesch aus dem stark betroffenen Gaukönigshofen im Landkreis Würzburg, der mit der LfL zusammenarbeitet. Doch für Pommes oder Chips sind die nicht geeignet.
Landwirte verunsichert – Anbauflächen bereits reduziert
Dieses Jahr waren die Auswirkungen bei Landwirt Lesch zwar nicht so extrem – vermutlich durch die vielen Niederschläge. Im trockenen Jahr 2023 hingegen waren die Schäden dramatisch: "Ein Totalverlust, fast nicht erntbar und das Ergebnis nur ganz schlecht verwertbar." Viele Landwirte sind deshalb verunsichert und reduzieren bereits die Anbaufläche, auch Rainer Lesch. Auf die spät reifenden Kartoffelsorten für die Pommesherstellung wird er vorerst verzichten.
Er hofft, wie alle anderen Beteiligten, aber trotzdem auf praktikable Lösungen. Die Frage ist, ob sie schnell genug kommen – bevor Landwirtschaft und Industrie die Kartoffel aufgeben.
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