Nach 15 Jahren Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche bezeichnet die Betroffeneneninitiative "Eckiger Tisch" (externer Link) die Aufarbeitung als gescheitert. Die sogenannte MHG-Studie der katholischen Kirche (externer Link) habe zwar 1.670 mögliche Täter und 3.677 betroffene Kinder und Jugendliche identifiziert, aber untersucht und aufgeklärt habe die Kirche die konkreten Fälle nicht, schreibt der Vorsitzende des "Eckigen Tisches", Matthias Katsch, in einem aktuellen Brief an die Bundestagsabgeordneten. Experten gehen davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen weitaus höher sind - die Rede ist von der Spitze des Eisberges.
Die Kirche habe es den Bistümern überlassen, Studien und Gutachten in Auftrag zu geben - verbindliche Standards Fehlanzeige. "Diese Art von 'Aufarbeitung' ist für die Betroffenen weitgehend nutzlos. Sie erfahren nichts über ihren Täter, nichts über ihren Tatort, über weitere Betroffene, es gibt keine Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte in den betroffenen Einrichtungen, in denen die Täter ihr Unwesen treiben konnten", heißt es in dem Brief.
- Zum Artikel: "Half die Kirche mutmaßlichen Missbrauchstätern?"
Kritik auch an Politik und Justiz
Der "Eckige Tisch" beklagt sich auch bitter bei Politik und Justiz: "Man hat uns, die Opfer, mit der Täterorganisation weitgehend allein gelassen." Kein einziges Verfahren bei einer deutschen Staatsanwaltschaft, das nach 2018 angestrengt wurde, habe zu irgendeinem Ergebnis geführt. Kein Bischof oder Ordensoberer habe sich juristisch verantworten müssen.
In dem Brief appelliert der "Eckige Tisch" an die Bundestagsabgeordneten, sich politisch für die Betroffenen einzusetzen, beispielsweise in Form eines Entschädigungsfonds.
"Opfer warten noch immer auf angemessene Entschädigung"
Die Gründe, warum die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gescheitert sei, lägen im Dunkeln, so Katsch. Man könne nur Vermutungen anstellen. Seiner Ansicht nach sei es vor allem darum gegangen, "den finanziellen Schaden für die Kirche zu begrenzen".
Die Opfer warteten dagegen immer noch auf eine angemessene Entschädigung, heißt es in dem Brief. Viele Betroffene seien "müde und verzweifelt nach vielen Jahren des Hoffens, des Forderns, des Kämpfens um Aufklärung ihres Falls und für eine angemessene Entschädigung".
2010 wurde massenhafter Missbrauch in katholischen Institutionen bekannt
In welchem Ausmaß katholische Geistliche sich in den vergangenen Jahrzehnten sexuell an minderjährigen Schutzbefohlenen vergangen haben, ist ab Januar 2010 öffentlich bekannt geworden. Den Anfang machten ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs in Berlin, die sich an den damaligen Direktor wandten.
Kurz darauf wurde in Bayern als prominentestes Beispiel die emotionale, körperliche und sexuelle Gewalt im Klosterinternat Ettal bekannt. Über Jahrzehnte herrschte dort ein System, in dem einige Missbrauchstäter immer wieder von der Klosterleitung gedeckt, kurzzeitig entfernt und dann wieder im pädagogischen Dienst eingesetzt wurden. Juristisch belangt wurden nur die wenigsten der Patres. Auch in zahlreichen anderen Orten in Bayern meldeten sich Betroffene von sexueller Gewalt durch katholische Geistliche. Betroffen waren unter anderem die Regensburger Domspatzen, das Ottonianum in Bamberg oder die katholische Pfarrgemeinde Maria Geburt in Aschaffenburg.
Studie: Die Opfer leiden bis heute
Laut der MHG-Studie litten 2018 etwa die Hälfte aller interviewten Opfer an Wiedererleben und Wiedererinnern der Gewalterfahrungen (50,9 Prozent) oder berichteten, dass sie durch Vermeidungsverhalten eingeschränkt seien, um nicht getriggert zu werden (48,6 Prozent). Ein gutes Drittel (36,4 Prozent) gab an, übererregbar zu sein. Bei 6,6 Prozent der Opfer gab es Anhaltspunkte, dass sie an einer Posttraumatischen Belastungsstörung litten. Psychische Störungen wie Depressionen, Ängste, Schlafprobleme, Alkoholismus, Alpträume oder Selbstmordgedanken spielten ebenfalls eine große Rolle.
Viele Opfer hatten laut der Studie außerdem gravierende Probleme in Ausbildung und Beruf sowie in Partnerschaft, Sexualität und Lebensführung. Ein Teil von ihnen berichtete von Problemen mit Glauben und Spiritualität.
Mit Informationen der dpa
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