Julian Assange
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Assange bald frei: Welche Rolle er als Whistleblower spielte

Für die einen ist er ein Held, für andere ein Verschwörer: Julian Assange wurde mit seiner Enthüllungsplattform Wikileaks weltberühmt. Was zu Aufstieg, Fall und Freilassung des bekanntesten Whistleblowers geführt hat. Eine Analyse.

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Julian Assange ist auf dem Weg in die Freiheit: Statt Auslieferung an die USA gibt es offenbar einen Deal mit der US-Justiz, die dem Whistleblower die Rückkehr in seine Heimat Australien ermöglicht. Assange sei gegen Kaution aus dem Gefängnis in London entlassen worden, teilte Wikileaks mit.

Mit einem Flieger ging es nach Bangkok, von dort soll es nach Saipan weitergehen, der Hauptstadt des US-Außengebiets Nördliche Marianen. Dort soll Assange vor Gericht erscheinen und offenbar zu fünf Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt werden, die er allerdings schon in Großbritannien verbüßt hat. "Er wird ein freier Mann sein, sobald es unterschrieben ist", sagte seine Frau Stella Assange. Anschließend soll es nach Australien gehen.

Wie Wikileaks und Assange weltberühmt wurden

Damit endet ein jahrelanges Tauziehen, nachdem Assange zuvor 1.901 Tage in Haft und davor fast sieben Jahre in der Ecuadorianischen Botschaft gelebt hatte. Wie kam es dazu?

Assange ist Mit-Initiator von Wikileaks. Freier Zugang zu Informationen, das war der Grundgedanke, als die Plattform 2006 gegründet wurde. Die ersten Veröffentlichungen drehten sich um Korruption in Kenia oder Scientology. Doch es folgte viel brisanteres Material über das US-Militär: Mit einem Video zu den Luftangriffen in Bagdad, bei denen auch Journalisten erschossen wurden, sorgte die Plattform für enormes Aufsehen.

Es folgten Informationen etwa aus einem Handbuch über den Umgang von Gefangenen in Guantánamo Bay oder die Niederschlagung eines möglichen Gefangenenaufstandes. Damit rückten die USA immer mehr in den Fokus der Veröffentlichungen. Mehr als 700.000 vertrauliche Dokumente über militärische und diplomatische Aktivitäten der USA sollen insgesamt auf der Plattform gelandet sein.

Assange galt vielen als Journalist, der Kriegsverbrechen aufdeckte. Andere – besonders in den USA – sahen in ihm jemanden, der Mitglieder und Angehörige des Militärs in Gefahr brachte. Wikileaks nahm zunehmend eine prominente – und im US-Wahlkampf 2016 für viele auch eine unrühmliche – Rolle ein.

Welche Rolle Assange und Wikileaks im US-Wahlkampf 2016 spielten

In den letzten Wochen des US-Wahlkampfs 2016 veröffentlichte die Plattform fast 20.000 interne E-Mails der demokratischen Partei, die vom russischen Geheimdienst erbeutet wurden. Der Vorwurf: Moskau, das zuvor schon an der Beeinflussung der Wahl gearbeitet hatte, fand in Assange einen Partner, um seine Ziele zu erreichen.

Mark Warner, Demokrat, früher Mitglied und heute Leiter des Geheimdienst-Ausschusses des US-Senats, nannte Assange 2019 einen "direkten Beteiligten an den russischen Bemühungen, den Westen zu untergraben" und "einen engagierten Komplizen, bei dem Versuch, die amerikanischen Sicherheit zu untergraben".

Trump: "Ich liebe Wikileaks"

Donald Trump, 2016 noch Präsidentschaftskandidat der Republikaner, griff die Arbeit von Wikileaks im Wahlkampf dankend auf. Allein in den letzten Wochen vor der Abstimmung nannte er die Plattform mindestens 141 mal (externer Link). "Wikileaks – Ich liebe Wikileaks", sagte er unter anderem und bezeichnete die Plattform als "Fundgrube". Kaum im Amt wollte er davon aber nichts wissen. 2019 wurde er zu Assange, der da gerade verhaftet wurde, befragt. Trump antwortete: "Ich weiß gar nichts über Wikileaks, das ist nicht mein Ding".

2016 war das freilich anders. Trump lobte die Plattform mehrfach, sein Sohn Donald Jr. hatte direkten Kontakt mit den Machern und der damalige Trump-Berater Roger Stone gab an, mit Assange in Kontakt zu stehen und nannte ihn einen "Helden".

Republikaner über Assange: "Held" oder "Feigling"?

Auch andere Republikaner lobten Wikileaks vor der Wahl und änderten ihre Meinung anschließend. Als der Republikaner Mike Pompeo CIA-Chef wurde, nannte er – trotz wohlwollender Worte zuvor – Wikileaks einen "nicht-staatlichen, feindlich gesinnten Geheimdienst-Anbieter, oft unterstützt von staatlichen Akteuren wie Russland" und Assange einen "Narzissten" sowie "einen Betrüger, einen Feigling, der sich hinter einem Bildschirm versteckt".

Fakt ist: Durch die Veröffentlichung nahm Wikileaks Einfluss auf die US-Wahl – zu Ungunsten von Hillary Clinton und mit Hilfe Moskaus. Assange verteidigte das Vorgehen seiner Plattform, sprach davon, dass es lediglich darum gegangen sei, die Öffentlichkeit besser zu informieren. Sein Handeln basiere nicht "auf dem persönlichen Wunsch, das Ergebnis der Wahl zu beeinflussen."

Doch das deckt sich nur bedingt mit den Handlungen. Denn es blieb nicht nur bei E-Mails, die teils aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Auch Desinformation verbreite Wikileaks, spekulierte unter anderem über mögliche Krankheiten Clintons oder unterstellte Clinton-Berater John Podesta, an Vampir-Ritualen teilzunehmen.

"Maximale Transparenz" oder politische Agenda?

Von den veröffentlichten Mails waren nur wenige von Brisanz, beispielsweise wurde darüber gesprochen, wie man den parteiinternen Clinton-Konkurrenten Bernie Sanders attackieren könne. Bei vielem ging es aber um normale Wahlkampf-Aktivitäten bis hin zu zu Tipps für Kochrezepte. Doch allein die Begriffe "Leak" in Verbindung mit "Clinton" und "E-Mails" sowie die Andeutungen von Wikileaks und die Freude, mit dem die extrem Konservativen den Fall ausschlachteten, ließ bei vielen Wählern den Eindruck entstehen, dass hier etwas Illegales, Verschwörerisches bei den Demokraten am Laufen sei.

Assange sprach stets davon, dass er schlicht für "maximale Transparenz" sorgen wolle. Doch viele unterstellten ihm eine persönliche Abneigung gegen Hillary Clinton sowie eine Abneigung gegen die USA insgesamt. Denn Assange soll laut Berichten 2016 auch Material über Korruption im Kreml zugespielt worden seien – da entschied sich die Plattform offenbar gegen eine Veröffentlichung. Den Vorwurf, nicht "maximale Transparenz", sondern eine politische Agenda zu verfolgen, konnte Assange in den Augen vieler nie entkräften.

Prorussische Propaganda?

So hielten sich die Anschuldigungen, Assange lasse sich von Russland instrumentalisieren. Russland warf der EU vor, sie schweige zum Fall Assange. Das sei ein Beispiel für "kannibalistische Weltsicht" Großbritanniens und der USA. Auf dem russischen Auslandssender RT (früher Russia today) hatte Assange 2012 eine eigene Show, "The World Tomorrow". Bis heute finden sich dort immer wieder Bezüge zu Assange in der Berichterstattung, verbunden mit antiamerikanischen Thesen, prorussischer Propaganda, "Querdenken"-Inhalten und Anknüpfungspunkten an rechtes Gedankengut.

"Formen grausamer und unmenschlicher Behandlung"

Doch rechtfertigte all dies das mögliche Strafmaß für Assange? Dass ihm wegen angeblicher Verstöße gegen das Anti-Spionage-Gesetz in den USA bis zu 175 Jahre Gefängnis drohten, sorgte weltweit als auch in Deutschland bei Aktivisten und Politikern über Fraktions-Grenzen hinweg für Unverständnis. Es gibt sogar eine Bundestagsarbeitsgemeinschaft mit dem Titel "Freiheit für Julian Assange", zu der Politiker aus CDU, SPD, Grüne, FDP und Linke gehören.

Der menschenrechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Frank Schwabe, sagte 2021: "Julian Assange wurde über mehrere Jahre hinweg bewusst schweren Formen grausamer und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt." Und weiter: "Schon allein aus humanitären Gründen" gebiete sich eine Begnadigung.

Doch bis es so weit kam, vergingen weitere drei Jahre, in denen unter anderem ein Psychiater Assange einen schlechten gesundheitlichen Zustand bescheinigt und von Depressionen, Halluzinationen und Suizidgefährdung spricht. "#FreeAssange" wurde international zu einem Schlachtruf, hinter dem sich eine Großzahl von Menschen versammelte.

Assange und die Justiz

Seit 2012 lebte Assange nicht mehr in Freiheit. 2010 wurde er in Großbritannien zum ersten Mal aufgrund eines schwedischen Haftbefehls wegen des Vorwurfs eines Sexualverbrechens festgenommen. Später wurde der Haftbefehl fallen gelassen.

Seither stand Assange zeitweise unter Hausarrest. Er hielt sich fast sieben Jahre lang in der ecuadorianischen Botschaft in London auf. 2019 wurde er festgenommen und im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh festgehalten. Jahrelang drohte ihm die Auslieferung in den USA.

Was ist ein Whistleblower?

Der Fall Assange stand und steht aber für eine größere Debatte. Whistleblower sind eine Art Frühwarnsystem in Unternehmen oder Behörden, dass etwas nicht stimmt, meist sind es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, deren interne Kritik nicht gehört wurde. Dabei handelt es sich oft um Straftaten, Korruption oder Menschenrechtsverletzungen, Vorkommnisse also von allgemeinem Interesse. Pate stand das englische Wort 'whistle', verpfeifen. Im Deutschen wird der Begriff "Hinweisgeber" verwendet.

Alle lieben Verrat, aber nicht die Verräter

Hierzulande hat man sich sehr schwer mit der Diskussion getan, ob Whistleblower einen besonderen Schutz benötigen. Unter anderem historisch bedingt: Sowohl das Hitler-Regime, also auch die DDR haben sich auf Denunziantentum verlassen. Für Journalisten aber sind Whistleblower eine wichtige Quelle, weil sie als Insider Missstände entdecken, die von außen oft nicht erkennbar sind. Doch sie prüfen immer Folgendes: Wie relevant sind die Informationen und sind sie unabhängig überprüfbar?

Ist der Wikileaks-Initiator ein Journalist?

Dass Assange mit seinem Portal Wikileaks jedem ermöglichte, Informationen hochzuladen, war ein Problem in der Diskussion um den möglichen Schutz. Denn nur Journalistinnen und Journalisten können sich auf das hohe Gute der Pressefreiheit berufen. Darauf hatte sich Assange immer wieder berufen. Auf Wikileaks aber werden Informationen ohne Faktencheck hochgeladen und veröffentlicht.

EU-Richtlinie zum Schutz der Whistleblower

In Deutschland stand lange das Arbeitsrecht dem Whistleblowing entgegen, denn Geschäftsgeheimnisse durften nicht weitergegeben werden. Oft reichte dazu allerdings aus, ein Vorgang mit dem Vermerk "Nur für den internen Gebrauch" zu beschriften. Die Diskussion um Hinweisgeber wie Assange, Snowden oder Manning führen allerdings dazu, dass die EU 2019 eine Whistleblower-Richtlinie verabschiedete. Deutschland tat sich mit der Umsetzung schwer, erst mit Verspätung trat sie im Juli 2023 in Kraft – unter dem Namen Hinweisgeberschutzgesetz.

Kritik am Hinweisgeberschutzgesetz

Dabei habe Deutschland aber nicht alle europäischen Vorgaben umgesetzt, so die Kritik zum Beispiel des Whistleblowing-Netzwerkes, das potentielle Hinweisgeber berät. Viele Unternehmen hätten noch nicht begriffen, dass Whistleblower keine Nestbeschmutzer seien, sondern die Unternehmen von den Informationen profitieren könnten. Andere – wie die Gesellschaft für Freiheitsrechte – kritisieren, dass der Schutz sehr selektiv sei. Zum Beispiel sei die Offenlegung von Informationen gegenüber Presse und Öffentlichkeit nur unzureichend geschützt.

Positive Reaktionen auf Assange-Freilassung

Dass Julian Assange nun in die Freiheit entlassen wird, nahmen deutsche Politiker wohlwollend zur Kenntnis. "Ich bin froh darüber, dass dieser Fall offensichtlich durch Absprachen gelöst worden ist und Assange den Arrest verlassen durfte", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Und Außenministerin Annalena Baerbock erklärte, dass sie froh sei, "dass dieser Fall, der überall auf der Welt sehr emotional diskutiert wurde und viele Menschen bewegt hat, dass er nun endlich eine Lösung gefunden hat". In den USA sehen das nicht alle so. Der ehemalige Vize-Präsident Mike Pence nannte den Vorgang einen "Justizirrtum".

London: Screenshot aus dem Wikileaks -Konto X (ehemals Twitter) von Julian Assange an Bord eines Fluges nach Bangkok.
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London: Screenshot aus dem Wikileaks -Konto X (ehemals Twitter) von Julian Assange an Bord eines Fluges nach Bangkok.

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