"Landwirtschaft ist systemrelevant." Das schreibt die Zukunftskommission Landwirtschaft der Bundesregierung in ihrem Abschlussbericht 2021. Für den Großteil der Bäuerinnen und Bauern in Deutschland fühlt sich das zumindest nicht so an, und sind daher mit vielen tausenden Traktoren auf den Straßen unterwegs. "Zuviel ist zuviel", "Das Maß ist voll" oder "Ohne Bauern kein Bier" steht auf den Schildern, die an den Traktoren befestigt sind.
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Es geht gegen die Sparpläne der Ampel-Regierung. Ursprünglich sollte die Kfz-Steuerbefreiung für die Landwirtschaft gestrichen werden, und auch der Rabatt auf die Energiesteuer für Agrardiesel. Das haben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) zwar teilweise wieder zurückgenommen, den Landwirten reicht das aber nicht. Bauernpräsident Joachim Rukwied spricht von einem "Sterben auf Raten". Die Frage drängt sich auf: Wie zukunftsfähig ist die deutsche Landwirtschaft?
Agrarökonom Alfons Balmann vom Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien hält Rukwieds Warnung im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) für überzogen: "Die jetzigen Sparbeschlüsse treffen die Landwirtschaft zwar schmerzhaft, aber sie bringen auf keinen Fall die Landwirtschaft in Existenznöte, wie es teilweise vom Bauernverband geäußert wird."
Wie geht es der Landwirtschaft in Deutschland wirklich?
Für Landwirtinnen und Landwirte war das Wirtschaftsjahr 2022/23 ein Ausnahmejahr: Der durchschnittliche Gewinn der Betriebe stieg auf das Rekordniveau von 115.400 Euro – ein Plus von 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. "Das liegt daran, dass die Landwirtschaft enorm von der Inflation profitiert hat", sagt Balmann. Gestiegene Lebensmittelpreise schlügen sich entsprechend in den Einkommen der Bauern nieder.
Balmann führt allerdings aus, dass die Landwirtschaft in Deutschland ganz unterschiedlich aufgestellt ist, es gebe in Nord- und Ostdeutschland sehr leistungsfähige und rentable Betriebe. "In Süddeutschland gibt es viele Betriebe, bei denen man von Museumslandwirtschaft sprechen muss, beispielsweise bei Milchviehbetrieben in Bayern, die häufig noch die Anbindehaltung nutzen." Diese Technologie gehöre seit 50 Jahren in ein Museum. Für diese Betriebe sieht Balmann keine großartigen Perspektiven.
Beate Richter vom Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft beschreibt im BR24-Interview dieses Spannungsfeld: "Einige Betriebe können trotz der Agrarsubventionen kaum kostendeckend arbeiten, andere wiederum können mit den betrieblichen und örtlichen Gegebenheiten wie den Bodenbeschaffenheiten oder auch den Witterungsverhältnissen gute Gewinne erzielen." "Den Bauern" gibt es also gar nicht.
Im Video: Bauernproteste – Welche Zukunft hat die Landwirtschaft noch? Possoch klärt!
"Falsche Anreize" im Hinblick auf Klimafreundlichkeit
Gerade deshalb ist es so schwierig, pauschal sagen zu können, wie schlimm Sparmaßnahmen die Bauern treffen. Ein Milchbauer aus dem Dachauer Land sagt, er würde durch eine Streichung der Agrardiesel-Vergünstigung 13.000 Euro im Jahr verlieren. Andere sagen, es würden um die 2.000 Euro pro Jahr fehlen. Wieder andere sagen, sie müssten ihren Betrieb dichtmachen, wenn die Subventionen unmittelbar wegfallen würden. Wie existenzgefährdend die geplanten Maßnahmen sind, kann am Ende des Tages nur jeder Landwirt, jede Landwirtin selbst beantworten.
Den Verzicht auf Diesel hält Balman im Hinblick auf die Klimafreundlichkeit der zukünftigen Landwirtschaft für unverzichtbar. Im Moment verursacht die Landwirtschaft rund 13 Prozent des Treibhausgasausstoßes in Deutschland. Das liegt nicht nur an der Tierhaltung, etwa am Freisetzen von Methan bei der Verdauung von Kühen, sondern auch an den fossil betriebenen Fahrzeugen. Beate Richter spricht in diesem Zusammenhang von "falschen Anreizen". Beim Abbau umweltschädlicher Subventionen müsse die Agrardiesel-Vergünstigung in den Blick genommen werden.
Die Ampel – der Totengräber der Landwirtschaft?
Claudia Bockholt, Chefredakteurin des Bayerischen Landwirtschaftlichen Wochenblatts, hält die Sparbeschlüsse der Ampel ebenfalls nicht für den "Todesstoß". Allerdings würden sie Signale an junge Landwirte aussenden, die sich fragten, ob sich der Beruf überhaupt noch lohnt. "Dann sind solche politischen Entscheidungen das kleine Tröpfchen, das es noch braucht, um zu sagen: Nein, ich habe die Nase voll."
Dass sich die derzeitigen Bauernproteste stark auf die aktuelle Politik der Ampel verengen, sieht Alfons Balmann kritisch: "Das sind Probleme, die seit zehn, fünfzehn Jahren auf dem Tisch liegen und auch von den Vorgängerregierungen nicht wirklich adressiert worden sind."
Es geht um Wertschätzung, nicht um Geld
Primär geht es den Bäuerinnen und Bauern auch gar nicht so sehr ums Geld, wie es die Landwirtin Marie Hoffmann in einem Video auf TikTok sagt: "Wir brauchen eine gänzliche Umstrukturierung der Agrarpolitik, damit wir weniger abhängig von der Preisgestaltung des Lebensmitteleinzelhandels sind und von Subventionen und einfach mal fair für die Leistungen und Produkte bezahlt werden."
Die allgemeine Wertschätzung des Bauernstandes in der Gesellschaft hält Balmann nach wie vor für hoch, allerdings nehme der Bürger hierbei zwei unterschiedliche Perspektiven ein: "Wir möchten mehr Klimaschutz oder mehr Tierschutz, und gleichzeitig müssen wir als Konsumenten auf unser Portemonnaie achten."
Rabattschlacht bis zum Mindesthaltbarkeitsdatum
Claudia Bockholt vom Bayerischen Landwirtschaftlichen Wochenblatt nimmt dabei auch den Lebensmitteleinzelhandel in der Pflicht: "Dieser ruinöse Preiswettkampf müsste aufhören. Wir Deutschen geben immer noch viel zu wenig Geld für Lebensmittel aus."
Es scheint also das bekannte Problem zu sein: Die Verbraucher wollen Bio, Umweltschutz und Tierwohl, aber mehr bezahlen wollen sie nicht. Die Herausforderung, günstig Lebensmittel zu produzieren, ist jedoch nur eine von vielen, die sich der Landwirtschaft stellen: Klimaschutz, Biodiversitätsschutz, mehr Tierwohl in den Ställen, Digitalisierung und die Herausforderung, weniger von Subventionen abhängig zu sein.
Laut Alfons Balmann braucht die Landwirtschaft einen Strukturwandel, "auch zu dem Preis, dass Subventionen gekürzt werden, die schmerzhaft sind". Worin sich unsere Expertinnen und unser Experte einig sind: Den Strukturwandel können die Landwirte nicht allein schultern, aber die Politik kann ihn auch nicht allein regeln. Es bleibe eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nach Ansicht von Claudia Bockholt alternativlos ist: "Was passiert, wenn das Schweinefleisch nicht mehr aus Deutschland kommt? Will ich, dass das Schweinefleisch tatsächlich aus chinesischen Hochhäusern kommt oder aus Fabriken kommt, wo Millionen Tiere gehalten werden?"
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