Der Wahl-O-Mat und das Problem der Zuspitzung
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Der Wahl-O-Mat und das Problem der Zuspitzung

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Der Wahl-O-Mat und das Problem der Zuspitzung

Der Wahl-O-Mat will die komplexen Wahlprogramme der Parteien entschlacken und auf relevante Aussagen verdichten. Das ist eine Herausforderung: Der Grat zwischen Zuspitzung und Missverständlichkeit ist schmal. Wir analysieren drei Kritikpunkte.

Über dieses Thema berichtet: BR24live am .

Die Zahl der Unentschlossenen vor Wahlen wächst beständig. Da greift man gern zum Wahl-O-Maten, um sich selbst auf die Sprünge zu helfen. Wer schon weiß, was er oder sie wählt (oder schon per Brief gewählt hat), mag sich über die Vorschläge wundern, die der Wahl-O-Mat am Ende ausspuckt. Das wirft die Frage auf, ob der Wahl-O-Mat tatsächlich eine Hilfe für die Wahlentscheidung ist. Wir problematisieren hier drei Aspekte: Da ist einmal der Hang, Unterschiede zwischen den Parteien zu betonen, wodurch Gemeinsamkeiten unter den Tisch fallen. Zum anderen thematisieren wir die Problematik der Zuspitzung in den Thesen, die den Nutzerinnen und Nutzern vorgesetzt werden. Schließlich gehen wir auf den Vorwurf ein, der Wahl-O-Mat baue seine Empfehlungen ausschließlich auf die Versprechen von Parteien und ignoriere deren Bilanz.

Der Wahl-O-Mat: Beliebt, aber ohne große Auswirkung

Blickt man auf die nackten Zahlen, kann der Wahl-O-Mat inzwischen eine beachtliche Nachfrage vorweisen. Gestartet im Jahr 2002, ist er bis heute rund 115 Millionen Mal angewandt worden. Mehrheitlich zur Freude der Nutzer, die an Orientierung gewinnen: 70 Prozent geben laut Wahl-O-Mat an, "klarer die Unterschiede zwischen den Parteien" zu erkennen. Weiter teilen die Macher des Tools stolz mit, 70 Prozent der Nutzer, die zuvor nicht hätten wählen wollen, würden durch die Nutzung des Wahl-O-Mat "motiviert, zur Wahl zu gehen".

Beeindruckende Zahlen. Und dennoch, große Folgen für Wahlausgänge hat das Online-Tool der Bundeszentrale für politische Bildung bisher nicht. Eine Studie der Universität Düsseldorf zeigt, dass weder der Wahl-O-Mat noch andere Instrumente dieser Art (sogenannte Voting Advice Applications) eine spürbare Auswirkung auf den Wahlausgang haben – und auch nicht auf die Wahlbeteiligung.

Es lebe der Unterschied

Martin Hetterich von der Bundeszentrale ist einer der Macher des Wahl-O-Maten. Er erklärt bei BR24live (Video oben) die Vorgehensweise:

"Wir schauen uns zuerst die Parteiprogramme durch und überlegen uns: Was sind die Themen, die die Parteien in ihren Programmen aufgreifen und was sind die Themen, die politisch diskutiert werden? Daraus formen wir Thesen und die Thesen geben wir den Parteien zur Beantwortung. Mit den Antworten wählen wir am Schuss die 38 Thesen aus, die die Themen des Wahlkampfs am besten treffen aber auch die Parteien am besten unterscheiden". Martin Hetterich, Bundeszentrale für politische Bildung

Genau darin liegt ein Problem, auf das der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider schon 2021 anlässlich des Wahl-O-Maten zur Bundestagswahl in der Westdeutschen Allgemeinen hingewiesen hat: "Es wird nach Themen gesucht, bei denen es zwischen den Parteien die deutlichsten Unterschiede gibt." Es blieben deshalb Themen unberücksichtigt, die für die Menschen wichtig sind, aber zwischen den Parteien wenig umstritten. Hetterich sagt, man wolle in der Tat nicht "nur Thesen auswählen, die das Parteienspektrum irgendwo in der Mitte treffen", sondern "die Nuancen im Parteiensystem und in den Positionen der Parteien herausarbeiten. Und deshalb müssen wir bei Themen mal 'ganz links' oder mal 'ganz rechts' unterscheiden."

Zuspitzung vs. Trivialisierung

Der Wahl-O-Mat spitzt zu und steht deswegen gelegentlich in der Kritik: Er ist mit dem Vorwurf konfrontiert, manche These lasse sich nicht mit Ja oder Nein beantworten. Im aktuellen Wahl-O-Mat zur Europawahl lautet zum Beispiel These 4: "Die Ukraine soll Mitglied der EU werden." Angenommen, jemand befürwortet die Mitgliedschaft perspektivisch, hält sie aber angesichts des Kriegs bis auf Weiteres für unrealistisch - wie positioniert man sich in diesem Fall zur These des Wahl-O-Maten?

Anderes Beispiel, These Nummer 9 der Ausgabe zur Europawahl 2024: "Beim Bau neuer Wohngebäude in der EU soll die Errichtung von Photovoltaikanalagen verpflichtend sein."

Eine generelle Solarpflicht also, für alle Häuslebauer. Wer die These bejaht, findet sich unter anderem bei den Grünen wieder, sie haben der Wahl-O-Mat-These zugestimmt. So weit, so eindeutig. Schaut man in den Datensatz der Wahl-O-Mat-Macher, ist die Sache nicht mehr so klar: Demnach bejahen die Grünen die Solarpflicht unter der Bedingung, "wann immer es technisch und wirtschaftlich sinnvoll ist". So formuliert die Partei es selbst. Gelingt hier der Versuch, durch Zuspitzung Orientierung zu bieten?

Was die Wahl-O-Mat-Macher bezwecken, ist klar: Sie wollen die Haltung der Parteien zum Klimaschutz differenzierter abbilden als bloß mit der Frage, ob sie Klimaschutz bejahen oder verneinen: "Der Wahl-O-Mat arbeitet natürlich mit Schwarz-Weiß, mit Zustimmung oder Ablehnung", sagt Martin Hetterich. "Aber er arbeitet eben auch mit 38 Thesen. Zu übergreifenden Themen wie dem Klimaschutz hat der Wahl-O-Mat verschiedene Thesen." Das erlaube unterschiedliche Positionierungen innerhalb eines Themenfeldes. So entstünden am Ende "ganz viele Grautöne".

Macht der Wahl-O-Mat es sich zu einfach?

Kritisiert wird gelegentlich, der Wahl-O-Mat schaue nur auf Versprechen, ignoriere aber die Bilanz der politischen Parteien. Ist das tatsächlich ein Mangel?

Natürlich fällen Wähler ihre Entscheidungen auch auf Basis der praktischen Politik und des Vertrauens, das sie in Parteien setzen. Dabei will der Wahl-O-Mat aber ausdrücklich nicht helfen: Er sei nur "ein Steinchen im Mosaik" vieler wahlentscheidender Faktoren, sagt Hetterich. Konkret, das Tool hilft erklärtermaßen nur bei der Meinungsbildung über die Programmatik. Die Bilanz überlässt er anderen.

Einen Effekt hat der Wahl-O-Mat auch auf die Parteien selbst. Es zwingt sie, zu den 38 Thesen eindeutig Stellung zu beziehen. Und zwar auch bei innerparteilich umstrittenen Themen oder dort, wo die Wahlprogramme Lücken lassen. Hier ist die Zuspitzung also ein Vorteil, zumal Wahlprogramme – meist sehr lang und komplex – ohnehin nicht in erster Linie auf Außenwirkung zielen, sondern auf Selbstvergewisserung nach innen. Der Wahl-O-Mat hilft also durchaus, die Positionen verständlich unter die Wählerinnen und Wähler zu bringen.

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