Markus Buchheit (AfD), Christine Singer (Freie Wähler) und Thomas Rudner (SPD) waren bei der ersten BR-Wahlarena zu Gast.
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Markus Buchheit (AfD), Christine Singer (Freie Wähler) und Thomas Rudner (SPD) waren bei der ersten BR-Wahlarena zu Gast.

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#Faktenfuchs: Wahlarena mit SPD, AfD und Freien Wählern im Check

In den Wochen vor der Europawahl stellen sich die Kandidaten für das EU-Parlament den Fragen des Publikums. Den Anfang machten Christine Singer (Freie Wähler), Thomas Rudner (SPD) und Markus Buchheit (AfD). Ihre Aussagen im Faktencheck.

Über dieses Thema berichtet: BR24 Wahlarena am .

Hinweis: Wir haben die Behauptungen – wie bei allen Themen, die wir überprüfen – nach drei Kriterien ausgewählt: Verbreitung, Relevanz und Überprüfbarkeit. Es spielt keine Rolle für die Veröffentlichung, ob die Behauptung richtig oder falsch ist oder wer die Behauptung geäußert hat.

Die Wahlarena mit Christine Singer, Thomas Rudner und Markus Buchheit können Sie hier in der Mediathek anschauen.

  • Hier finden Sie alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel.
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Markus Buchheit sitzt für die AfD im Europaparlament.

Abwandern deutscher Industrie ins Ausland

Die Behauptung:

Markus Buchheit, AfD: "Also die Wirtschaft … Miele, Stihl und so weiter – alle schon raus aus dem Land."

Der Kontext:

Nach einer Frage zum Klimaschutz kam Buchheit auf den Wirtschaftsstandort Deutschland zu sprechen und sagte: "Ich glaube, wir sind auf dem besten Weg dorthin, alles zu unternehmen, uns zu deindustrialisieren jetzt gerade." Direkt im Anschluss sagte er, Miele und Stihl seien "schon raus aus dem Land", als Beispiele für die These.

Richtig oder falsch?

Falsch. Die Industrieunternehmen Miele und Stihl, die bereits seit vielen Jahren Standorte bzw. Werke im Ausland haben, haben Deutschland nicht verlassen. Miele plant, Stellen aus Deutschland nach Polen zu verlagern - es sind jedoch keine Pläne bekannt, den Standort Deutschland komplett aufzugeben. Stihl hatte zuletzt betont, keinen Abzug aus Deutschland zu planen.

Die Fakten:

Miele, Hersteller von Haushaltsgeräten, und der Motorsägenhersteller Stihl sind nicht "schon raus aus dem Land", wie Buchheit behauptet. Korrekt ist, dass das Gütersloher Unternehmen Miele Anfang des Jahres angekündigt hat, weltweit rund 2.000 Stellen zu streichen. 700 Stellen in der Waschmaschinenmontage sollen von Gütersloh nach Polen verlagert werden.

Miele betreibt neben dem Hauptstandort in Gütersloh nach eigenen Angaben momentan noch sieben weitere Werke in Deutschland, etwa in Bielefeld, Lehrte und Euskirchen. Im Jahr 2022 arbeiteten nach Firmenangaben rund 23.000 Menschen bei Miele, etwa die Hälfte davon in Deutschland. Selbst mit einer Abwanderung eines Teils der Produktion wäre Miele damit nicht "raus aus dem Land".

Miele verlagert außerdem nicht erst jetzt Teile der Produktion in andere Länder oder baut außerhalb von Deutschland Produktion auf. Das Unternehmen betreibt schon länger Werke im Ausland, etwa in Tschechien (seit 2004, rund 2.000 Beschäftigte) oder Rumänien (seit 2009, rund 320 Beschäftigte).

Ähnlich international geht es beim Motorsägenhersteller Stihl aus Waiblingen bei Stuttgart zu. Neben acht Werken in Deutschland mit rund 6.000 Mitarbeitern produziert Stihl unter anderem auch in den USA, Brasilien, China - und in der Schweiz. Über ein mögliches Abwandern der Firma in die Schweiz wurde Anfang des Jahres in Medien spekuliert. Der Aufsichtsratsvorsitzende Nikolas Stihl hatte den Standort Deutschland kritisiert und Überlegungen hinsichtlich einer Produktionsverlagerung ins Nachbarland Schweiz geäußert. Ein geplantes Werk im baden-württembergischen Ludwigsburg wurde zudem gestrichen.

Was für einige als sichere Verabschiedung von Deutschland galt, war jedoch keine ausgemachte Sache. Im März sagte eine Stihl-Sprecherin gegenüber "t-online", dass eine Abwanderung des Unternehmens aus Deutschland nicht geplant sei, auch eine teilweise Verlagerung sei zu diesem Zeitpunkt nicht geplant. Ende April bekräftigte der Stihl-Chef Michael Traub laut dem "Südkurier" den Verbleib in Deutschland: "Wir planen keine Verlagerung in die Schweiz."

Will die AfD raus aus der EU?

Die Behauptung:

Markus Buchheit, AfD: "(...) das wird ja auch immer wieder vorgetragen, es sei jetzt so, dass die AfD sofort aus der EU raus will, das ist ja so nicht der Fall. Sondern es steht ja auch drin, es ist die Ultima Ratio, also die letzte Möglichkeit, für den Fall, dass wir keine Reformen mehr durchführen können in der EU."

Der Kontext:

Ein Zuschauer sagte zu Buchheit, beim Lesen des Wahlprogramms sei er auf den Punkt gestoßen, dass die AfD dafür sei, aus der EU auszutreten und stattdessen Wirtschaftsabkommen mit anderen Ländern einzugehen.

Richtig oder falsch?

Aktuell nicht richtig. Es gibt in den Programmen der AfD und in den Äußerungen ihrer Politikerinnen und Politiker unterschiedliche Aussagen zu einem Austritt Deutschlands aus der EU. Die Behauptung von Markus Buchheit ähnelt den Aussagen im Grundsatzprogramm der AfD von 2016. Allerdings hat die Partei im letzten Bundestagswahlprogramm und im jetzigen Europawahlprogramm klar geschrieben, dass sie die EU auflösen will.

Die Fakten:

Die Aussage von Markus Buchheit ist ähnlich wie jene im AfD-Grundsatzprogramm. Dort steht: "Sollten sich unsere grundlegenden Reformansätze im bestehenden System der EU nicht verwirklichen lassen, streben wir einen Austritt Deutschlands oder eine demokratische Auflösung der Europäischen Union und die Neugründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an."

Allerdings wurde das Grundsatzprogramm im Jahr 2016 geschrieben. Seitdem hat die AfD ihre Absichten geändert und möchte laut ihren Wahlprogrammen aus der EU austreten und eine andere europäische Staatengemeinschaft gründen. Im Bundestagswahlprogramm von 2021 steht: "Wir halten einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft für notwendig."

Dieselbe Position vertritt die Partei auch in ihrem Programm zur aktuellen Europawahl. Darin heißt es: "Wir halten die EU für nicht reformierbar und sehen sie als gescheitertes Projekt. Daher streben wir einen ‘Bund europäischer Nationen’ an, eine neu zu gründende europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft, in der die Souveränität der Mitgliedstaaten gewahrt ist."

In der Öffentlichkeit äußerten sich einige AfD-Politiker widersprüchlich zu den Wahlprogrammen. So äußerte sich etwa die AfD-Parteivorsitzende Alice Weidel im Januar 2024 laut Handelsblatt ähnlich wie Buchheit. Danach sei ein EU-Austritt erst eine Option, wenn Reformen nicht möglich seien. Der Thüringer AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke kritisierte die EU im Juli 2023 in einem Interview mit dem TV-Sender Phoenix scharf. Er sagte: "Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann." Die EU sei nicht reformfähig und müsse in einen anderen Staatenbund überführt werden.

Spitzenkandidat Maximilian Krah hat sich Medienberichten zufolge bereits im vergangenen Jahr gegen einen EU-Austritt ausgesprochen, nachdem bei der Wahl der Spitzenkandidaten derartige Forderungen aufgekommen waren. Dass es bei AfD-Politikern dabei wohl keinen Konsens gibt, zeigt auch das Beispiel der Europaabgeordneten Christine Anderson, die sich seit Jahren immer wieder für einen "Dexit" ausspricht.

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Christine Singer ist die Spitzenkandidatin der Freien Wähler für die Europawahl.

Fleischproduktion in Bayern

Die Behauptung:

Christine Singer, Freie Wähler: "Eigentlich ist Bayern prädestiniert für das Thema Fleisch, weil wir einfach die Voraussetzungen in der Natur haben."

Der Kontext

Christine Singer erwähnte direkt vor dem Zitat, dass etwa ein Drittel der landwirtschaftlich genutzten Fläche in Bayern Grünland ist, und sagt: "Da gehört halt mal die Tierhaltung dazu."

Richtig oder falsch?

Es stimmt, dass Bayern viel Grünland besitzt und Grünland bei der Tierhaltung eine Rolle spielt. Allerdings vor allem bei der Rinderhaltung. Für Schweine etwa, die 57,7 Prozent der Fleischproduktion in Bayern ausmachen, ist Grünland wenig relevant.

Die Fakten:

Ein Drittel der landwirtschaftlich genutzten Fläche in Bayern ist laut Bayerischer Landesanstalt für Landwirtschaft Grünland. Damit sind in erster Linie Mähwiesen oder Weiden gemeint, die für die Produktion von Futter genutzt werden. Auf Grünland werden vor allem Rinder gehalten, aber auch Ziegen, Schafe und Pferde.

Diese Wiesen und Weiden in Bayern sind fast ausschließlich durch menschliche Nutzung entstanden, heißt es auf der Webseite des Bund Naturschutz. Das heißt: Die menschliche Kultivierung und die bewusste Investition in die Tierhaltung waren laut BUND entscheidend für die große Menge an Grünflächen in Bayern.

Christine Singer hebt zwar das Grünland in Bayern hervor, allerdings ist Grünland nicht für jede Art der Fleischerzeugung zentral, sondern vor allem für die Rinderzucht wichtig. Was Geflügel- und Schweinezucht betrifft, sind Grünflächen "eigentlich gar nicht relevant", sagt Agrarökonomin Katrin Agethen vom Thünen-Institut, das zum Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gehört. "Grünland und Gras kann eigentlich nur gut verwertet werden von Tieren, die Wiederkäuer sind. Schweine und Geflügel können schlecht die Energie aus Grünland verwerten und werden mit Getreide oder auch Sojafuttermittel gefüttert."

Hier kommt der andere Teil der landwirtschaftlich genutzten Fläche Bayerns ins Spiel: das Ackerland. Laut Bayerischem Agrarbericht 2022 waren das im Jahr 2021 etwa 65 Prozent. Auf 20,3 Prozent der Fläche wird Ackerfutter angebaut.

Deutschlandweit wird vor allem Schwein und Geflügel gezüchtet für die Fleischproduktion. Das zeigt eine Statistik der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung von 2022. Rindfleisch landet mit 13 Prozent der Nettoerzeugung auf Platz 3, hinter Geflügel mit 20,5 Prozent und Schwein mit 58,5 Prozent der Nettoerzeugung. In Bayern betrug der Schweinefleischanteil 2022 laut Landesamt für Statistik 57,7 Prozent, der Rindfleischanteil war deutlich höher als im restlichen Deutschland mit 41,9 Prozent. Für Geflügelfleisch gibt es auf bayerischer Ebene keine Statistik. Seit 2018 sank die Fleischerzeugung in Bayern um über 10 Prozent.

Grünland ist laut Agethen vom Thünen-Institut vor allem für die Haltung von Milchvieh wichtig. Laut einem Steckbrief zur Tierhaltung in Deutschland des Thünen-Instituts gibt es mehr als viermal so viele Milchkühe in Deutschland wie Mastbullen für die Fleischerzeugung.

Es stimmt also, dass Bayern mit seinen Grünflächen gute Voraussetzungen für die Rinderhaltung bietet. Diese macht im Vergleich zu Schweinen und Geflügel einen eher kleinen Teil der Fleischproduktion Deutschlands aus.

Mindestlohn-Anstieg ist nicht der Hauptgrund für schwierige Lage der Obst- und Gemüsebauern

Die Behauptung:

Christine Singer, Freie Wähler: "Wenn [der Mindestlohn] jetzt nochmal angehoben wird (...) wenn wir das so fortsetzen, wie das aktuell ist, dann stirbt halt bei uns eine saisonale Erzeugung von Obst und Gemüse."

Der Kontext:

Singer spricht davon, dass eine weitere Anhebung des Mindestlohns für kleinere landwirtschaftliche Betriebe das Aus bedeuten könne. Aufgrund der steigenden Kosten seien ihre Produkte dann nicht mehr wettbewerbsfähig in der EU.

Richtig oder falsch?

Nicht falsch, aber verkürzt. Nach Einschätzung mehrerer Experten sind kleinere Betriebe wie etwa Spargel- und Erdbeerbauern, die Saisonarbeiter beschäftigen, durch den Mindestlohn zwar stark belastet. Für das Schließen solcher Betriebe gibt es aber noch weitere relevante Gründe.

Die Fakten:

Seit dem 1. Januar 2024 liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 12,41 Euro. Anfang kommenden Jahres folgt die nächste Erhöhung auf 12,82 Euro. Aktuell fordern Politiker der Linken, der Grünen und der SPD – darunter auch Bundeskanzler Scholz (SPD) – den Mindestlohn stärker als geplant zu erhöhen. Sie wollen, dass er in diesem Jahr auf zunächst 14 Euro steigt, im kommenden Jahr dann auf 15 Euro.

Richtig ist, dass eine Anhebung des Mindestlohns großen Einfluss auf die Kosten der Betriebe hat. Laut Hildegard Garming, Wissenschaftlerin am Thünen-Institut für Betriebswirtschaft, machen Lohnkosten derzeit zwischen 23 und 34 Prozent der Produktionskosten im Gemüsebau aus. Beim Obstbau sind es zwischen 25 und 55 Prozent. Wenn diese Lohnkosten steigen, verteuert das also die Produktion, treibt die Endpreise nach oben und macht die Erzeugnisse somit weniger wettbewerbsfähig im europäischen Vergleich.

Schon 2016 kam Garming deshalb in einem Working Paper zu dem Ergebnis, "dass der Mindestlohn die landwirtschaftlichen und gartenbaulichen Betriebe vor große Herausforderungen stellt". Dennoch hält Garming die Aussage von Christine Singer heute für verkürzt: Der Mindestlohn habe seit seiner Einführung 2015 vor allem dazu geführt, dass Betriebe sich angepasst haben. Zum Beispiel, indem sie die Arbeitsbedingungen so verbesserten, dass einzelne Arbeiter mehr ernten. Außerdem hätten viele Betriebe begonnen, mehr Maschinen bei der Ernte einzusetzen oder auf Obstsorten umgestellt, die leichter mit Maschinen zu ernten sind.

Singers Behauptung, die heimische Erzeugung von Obst und Gemüse drohe wegen des Mindestlohns auszusterben, kann Garming nicht nachvollziehen. Die Gemüseernte ist zwischen 2004 und 2021 sogar leicht gestiegen - auch wenn die jährlichen Zahlen schwanken. Auch die Zahlen bei der Obsternte variieren teilweise von Jahr zu Jahr stark und sind bei einigen Obstsorten rückläufig, sind aber insgesamt zwischen 2010 und 2021 weitgehend gleichgeblieben.

Richtig ist allerdings, dass in den letzten Jahren gerade kleinere Obst- und Gemüsebetriebe unter Druck geraten sind und viele Betriebe zugemacht haben. Das allerdings hängt vor allem damit zusammen, dass es eine Konzentration gibt: Während viele kleinere Betriebe schließen, werden große noch größer. Das geht aus einem Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von 2020 hervor. Darin heißt es: "Seit dem Jahr 2010 lässt sich insgesamt ein deutlicher Trend hin zu größeren Betriebsstrukturen feststellen. Während die Anzahl der Betriebe mit einer Nutzungsfläche bis zu 100 Hektar kontinuierlich zurückging, hat sie bei größeren Betrieben stetig zugenommen." (S. 44)

Wie aus dem Zitat hervorgeht, gibt es diesen Trend aber schon seit mindestens 2010 - also weit vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in 2015. Die Entwicklung habe auch mit dem generellen Strukturwandel in der Branche zu tun, sagt Uwe Latacz-Lohmann, Professor für Landwirtschaftliche Betriebslehre und Produktionsökonomie an der Christian Albrechts-Universität zu Kiel gegenüber dem #Faktenfuchs. Auch er findet Singers Argumentation deshalb verkürzt.

Im Bericht des Arbeitsministeriums wird als Grund für das "Bauernsterben" auch der zunehmende Arbeits- und Fachkräftemangel genannt, "der durch eine Vielzahl von Faktoren wie der demografischen Entwicklung, anhaltender Landflucht und vergleichsweise ungünstigen und niedrig entlohnten Arbeitsbedingungen geprägt ist".

Auch Alfons Balmann, Direktor des Leibniz-Instituts für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien, betont im Gespräch mit dem #Faktenfuchs, dass es schon länger einen Arbeits- und Fachkräftemangel in der Landwirtschaft gibt. Dieser führe dazu, dass die Betriebe die Löhne ohnehin stark anheben müssen - auch ohne den gesetzlichen Mindestlohn.

Auch ein im März 2024 veröffentlichter Bericht der Initiative Faire Landarbeit geht auf die Gründe für die schwierige Lage der kleineren Betriebe ein. Viele Arbeitgeber würden die Anhebung des Mindestlohns als einen Faktor nennen. Daneben erwähnen sie jedoch auch noch andere Faktoren: etwa höhere Preise für Düngemittel und gestiegene Energiekosten. Die Verfasser des Berichts fügen dem noch einen weiteren Punkt hinzu: Gestiegene Kosten könnten nur sehr begrenzt an die Endabnehmer weitergegeben werden: "Die vier großen Konzerne des Lebensmitteleinzelhandels diktieren die Preise und beziehen Produkte wie Erdbeeren zum Teil auch aus dem Ausland. In der Regel erfolgt der Einkauf im Tagesgeschäft, sodass der Spielraum bei den Preisverhandlungen auch für große Erzeugergemeinschaften zum Beispiel von Spargel oder Erdbeeren äußerst gering ist."

Insgesamt bewerten alle vom Faktenfuchs befragten Experten und Expertinnen den Mindestlohn als einen Faktor, der die Lage kleiner Obst- und Gemüsebauern erschwere. Keiner sieht darin aber den alleinigen Grund für die schwierige Lage.

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Thomas Rudner ist EU-Abgeordner für die SPD.

Italiens Kritik an der neuen EU-Verpackungsverordnung

Die Behauptung:

Thomas Rudner, SPD: "Einzig die kleinen Zuckertütchen, die man kriegt im Café (…) die werden bleiben, (…) die italienischen Abgeordneten sahen (durch eine zu weitgehende Verpackungsverordnung, Anm. d. Red) die italienische Kaffeekultur gefährdet."

Der Kontext:

Rudner antwortet auf eine Frage zur neuen Verpackungsverordnung der Europäischen Union, um die lange gerungen worden war.

Richtig oder falsch?

Teils, teils. Es stimmt, dass die Zuckertütchen aus Papier bleiben werden. Widerstand gegen das geplante Verbot kam auch von deutschen Unions-Politikern. Die italienische Regierung und die italienische Industrie sahen die Verpackungsverordnung grundsätzlich kritisch, Hintergrund dafür ist aber nicht die Kaffeekultur, sondern die italienischen Investitionen in Recycling.

Die Fakten:

Es stimmt, dass die Zuckertütchen aus Papier weiterhin in der EU erlaubt sind. Die Verpackungsverordnung sieht vor, nur Einwegverpackungen aus Kunststoff für Zucker, Salz und Pfeffer und ähnliche "Einzelportionen" ab 2030 zu verbieten. Das Europäische Parlament hat die Verordnung bereits verabschiedet und auch die Mitgliedstaaten haben den neuen Regeln schon zugestimmt. Sie müssen sie aber im EU-Rat noch formal absegnen, bevor die Verordnung in Kraft treten kann.

Die EU-Kommission hatte ursprünglich ein generelles Verbot der Zuckertütchen aus Plastik und Papier vorgeschlagen. Darüber wurde viel diskutiert. Ein deutscher Kritiker des Verbots von Papier-Zuckertütchen war der CDU-Europapolitiker Peter Liese. Auf seiner Webseite schrieb er nach der Verabschiedung der Verordnung im Parlament, "insbesondere die heimische Papierindustrie" habe sich über den ursprünglichen Vorschlag "massiv beschwert".

Bei der Debatte im EU-Parlament zur Verordnung äußerten sich lediglich zwei deutsche Politiker explizit zu den Zuckertütchen – Liese und die CSU-Abgeordnete Angelika Niebler. Die italienischen Abgeordneten, die bei dieser Debatte sprachen, erwähnten die Zuckertütchen nicht. Das Parlament stimmte letztlich gegen ein Verbot der Papiertütchen.

Zutreffend ist aber, dass die italienische Regierung die Pläne zu neuen Verpackungsregeln kritisch sah und blockierte. Der Vorwurf der italienischen Regierung: Die EU-Kommission setzte in ihrem Entwurf eher auf Müllvermeidung und Wiederverwendung und weniger auf die Wiederverwertung, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete. Italien habe aber viel in Recycling investiert und sei dabei innerhalb der EU Vorreiter.

Als das EU-Parlament im November 2023 über die von der EU-Kommission vorgestellte Reform abstimmen musste, lagen 525 Änderungsanträge vor. Laut "Süddeutsche Zeitung" stammten die meisten von italienischer Seite. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sagte in einer Erklärung vom 15. März 2024 zur Verpackungsverordnung: "Wir haben gezeigt, dass es in Brüssel jetzt ein Italien gibt, das sich nicht mit Lösungen zufriedengibt, die unsere Branche benachteiligen, und das in der Lage ist, bis zum Schluss hartnäckig zu verhandeln."

Es stimmt also, dass sich Italien gegen die Verpackungsverordnung der EU-Kommission wehrte. Aber es ging dabei wohl eher nicht um die italienische Kaffeekultur, sondern um die italienische Recycling-Wirtschaft und allgemein um die Verpackung von Lebensmitteln und Öl.

Wirtschaftliche Folgen eines deutschen EU-Austritts

Die Behauptung:

Thomas Rudner, SPD: "Ich halte das für eine ziemlich schlechte Idee. Man kann das ungefähr ausrechnen, was das pro Jahr kostet. Es sind glaube ich in etwa 500 Milliarden Wirtschaftsleistung, die den Bach runtergehen. Es wird letztendlich 2,2 Millionen Arbeitsplätze kosten bei uns."

Der Kontext:

Thomas Rudner antwortete hier auf die Grundsatzfrage des BR-Chefredakteurs Christian Nitsche, ob Deutschland einen EU-Austritt ins Auge fassen sollte.

Richtig oder falsch?

Die genauen wirtschaftlichen Folgen eines EU-Austritts werden unterschiedlich beziffert. Der SPD-Politiker bezieht sich bei den genannten Zahlen auf eine Experten-Aussage, die er korrekt zitiert. Weitere Studien kommen zu anderen Zahlen, die geringer ausfallen. Die Aussagen gleichen sich alle in einem Punkt: Ein EU-Austritt oder eine EU-Auflösung würde Deutschland wirtschaftlich schaden.

Die Fakten:

Im EU-Binnenmarkt gibt es freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr. Die meisten EU-Länder haben den Euro als gemeinsame Währung. Deutschland profitiert laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2019 von allen europäischen Staaten in absoluten Zahlen am meisten vom EU-Binnenmarkt.

Im Februar dieses Jahres gab Knut Bergmann, Leiter des Berliner Büros des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), der Rheinischen Post ein Interview. Bergmann sagte darin: "Würde Deutschland aus EU und Eurozone austreten, könnte es rund zehn Prozent seiner Wirtschaftsleistung verlieren. Das bedeutete einen Wohlstandsverlust von 400 bis 500 Milliarden Euro jährlich, wie die Übertragung einer Studie zu den tatsächlichen Brexit-Folgen zeigt."

In dem Interview findet sich also die Zahl, die Rudner in seiner Antwort zitiert. Auch bei der Aussage zu den Arbeitsplätzen wiederholt Rudner die Zahl, die Bergmann im Interview genannt hatte: 2,2 Millionen. Knut Bergmann vom IW wiederum bezieht sich auf eine britische Studie, die die Auswirkungen des Brexits über die darauf folgenden 15 Jahre berechnete. Die Ergebnisse dieser Studie habe man als Annahmen beim IW auf Deutschland übertragen, sagte Bergmann auf #Faktenfuchs-Anfrage.

Bei der Brexit-Studie wurde geschätzt, dass die britische Wirtschaft langfristig zehn Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) verlieren würde. Umgerechnet auf Deutschland entspreche das dem genannten Verlust von rund 400 Milliarden Euro pro Jahr, sagte Bergmann dem #Faktenfuchs. Im Vereinigten Königreich sind laut Studie geschätzt 4,8 Prozent der Jobs verloren gegangen. Für Deutschland wären dies dann 2,2 Millionen Arbeitsplätze.

Man müsse allerdings bei einer solchen vergleichsweisen Annäherung immer im Hinterkopf behalten, dass es strukturelle Unterschiede zwischen beiden Ländern gebe, sagt Bergmann: Deutschland und das Vereinigte Königreich würden sich in Wirtschaftsstruktur und geografischer Lage unterscheiden, Deutschland ist in der Eurozone.

Eine andere Studie des IW kommt zu geringeren Zahlen. Dafür nahmen die Wissenschaftler folgenden hypothetischen Fall an: Deutschland hätte 2016 die EU verlassen. Sie berechneten für die Jahre bis 2021 die Entwicklung des (BIP) für den Fall eines EU-Austritts und für den Fall eines EU-Verbleibs.

Nach der Rechnung in der IW-Studie würde Deutschland in den fünf Jahren nach einem "Dexit" insgesamt 5,6 Prozent seines BIPs verlieren. "Aufsummiert über die gesamten fünf Jahre hätte der volkswirtschaftliche Verlust rund 690 Milliarden Euro betragen", schreiben die Autoren. Das wären pro Jahr 138 Milliarden Euro Verlust. Die geringere Wirtschaftsleistung entspräche dem Verlust von gut 2,5 Millionen Arbeitsplätzen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis in dieser Größenordnung kamen Forscher vom Münchner ifo-Institut. Sie modellierten, welche Folgen eine komplette Auflösung der EU hätte. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt würde laut dieser Studie um 5,2 Prozent zurückgehen.

Die Aussagen von Thomas Rudner bewegen sich in puncto Wirtschaftsleistung also im oberen Bereich dessen, was bisherige wissenschaftliche Studien im Falle eines "Dexit" oder einer EU-Auflösung berechnet haben.

Hinweis: Beim Text zu den wirtschaftlichen Folgen eines deutschen EU-Austritts haben wir an zwei Stellen Wörter ergänzt, um die Bezüge auf die genannte Brexit-Studie klarer darzustellen. (03. Juni, 10.45 Uhr). Im Abschnitt über die Haltung der AfD zum EU-Austritt Deutschlands haben wir zwei Sätze mit Aussagen des AfD-Politikers Björn Höcke zur EU ergänzt (11. Juni, 11.21 Uhr).

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