Eine aus der Ukraine geflüchtete Familie geht im April 2022 am Grenzübergang Medyka kurz hinter der ukrainischen Grenze auf polnischer Seite zu einem Bus.
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Kommen viele Geflüchtete nach Deutschland? Sind die sozialen Leistungen ein Faktor? Wir beantworten Fragen der BR24-User.

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Geflüchtete: Kommen viele Ukrainer wegen sozialer Leistungen?

Hat Deutschland mehr Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen als andere EU-Länder? Warum erhalten Ukrainer und Ukrainerinnen Bürgergeld? Sind die Sozialleistungen übermäßig großzügig? Wir beantworten Fragen der BR24-User.

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Zu viel Bürokratie, zu lange Wartezeiten für Deutschkurse und nicht genügend Kinderbetreuungsplätze: Das sind einige Gründe, warum es Ukrainer und Ukrainerinnen in Deutschland schwerfällt, einen Job zu finden. Näher erläutert hat das dieser BR24-Beitrag:

BR24-User "Wecker" findet das zu kurz gegriffen. Er fragt: "Warum gehen nach Deutschland so viele ukrainische Flüchtlinge?" Als Vermutung schreibt er, dass es an den "fast bedingungslosen hohen Leistungen" liegt. Es sei wichtig, auch auf Gründe zu schauen, "warum nicht gearbeitet wird, obwohl man könnte". Auch andere User schrieben kürzlich in den Kommentaren, dass es in Deutschlands Nachbarländern, etwa in Tschechien, kein so "großzügiges Bürgergeld" gebe.

Nahm Deutschland unverhältnismäßig viele Menschen aus der Ukraine auf?

Daten dazu, in welchen EU-Staaten die meisten ukrainischen Geflüchteten registriert wurden, liefert unter anderem das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat). Betrachtet man die Zahlen absolut, stimmt die Aussage: Deutschland hat eine Million Ukrainer aufgenommen und damit die meisten. Allerdings ist Deutschland in mehreren Dimensionen größer als Staaten wie Polen oder Tschechien: etwa in der Fläche, der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft.

Deshalb muss für einen fairen Vergleich die Zahl in Relation betrachtet werden – Eurostat wählt dazu das Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Und schon sieht das Ranking etwas anders aus, wie die folgende Grafik zeigt:

Warum bekommen Ukrainer und Ukrainerinnen Geld, ohne einen Asylantrag auszufüllen?

Ein Asylverfahren dient dazu, festzustellen, ob ein geflüchteter Mensch in Deutschland Recht auf Schutz hat. Die Menschen, die vor einem Angriffskrieg aus der Ukraine fliehen, hätten diesen Status erhalten.

Die EU-Mitgliedstaaten haben im März 2022 in einer gemeinsamen Vereinbarung beschlossen, den Schutzstatus der fliehenden Ukrainer und Ukrainerinnen für eine bestimmte Zeit direkt anzuerkennen. Ihnen wird deshalb sofort ein befristeter humanitärer Aufenthaltstitel verliehen. Das entlastet unter anderem die Behörden – in Deutschland etwa das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die Ausländerbehörden –, die die zahlreichen Anträge sonst hätten bearbeiten müssen.

In Deutschland bestimmt der Aufenthaltsstatus darüber, welche Sozialleistungen Geflüchtete erhalten. Egal, woher jemand geflohen ist: Wer einen humanitären Aufenthaltstitel hat, erhält Bürgergeld. Darüber wird in der deutschen Politik aktuell gestritten.

Kommen ukrainische Geflüchtete nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland?

Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages stellten – unter Berücksichtigung der aktuellen Migrationsforschung – im November 2023 fest: Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Es gebe vor allem keine verlässlichen Studien, die den Zusammenhang nachweisen, egal ob für Deutschland oder andere Länder.

Auch die Vorstellung, dass einzelne Faktoren wie Sozialleistungen einen sogenannten "Pull-Effekt" in Richtung eines bestimmten Landes haben könnten, wird von der neueren Migrationsforschung abgelehnt. Zu sehr würden dadurch komplexe Zusammenhänge vereinfacht.

Yuliya Kosyakova leitet am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg den Forschungsbereich Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung und ist Professorin für Migrationsforschung an der Universität Bamberg. Sie sagt: "Es gibt keine empirische Evidenz, dass das Bürgergeld ein Pull-Faktor für ukrainische Geflüchtete in Richtung Deutschland ist."

Der Großteil der Ukrainer und Ukrainerinnen sei unmittelbar nach Beginn des Krieges gekommen – bevor entschieden wurde, dass sie Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch erhalten würden. Auch nachdem von Hartz IV auf Bürgergeld umgestellt wurde, hat es laut der Expertin keinen signifikanten Anstieg in den Migrationszahlen gegeben.

"Ein viel größerer Faktor für flüchtende Menschen ist, dass im Ankunftsland soziale Netzwerke vorhanden sind – insbesondere Bekannte, Freunde, Verwandte und Familienangehörige", sagt Kosyakova. "Sie sind wichtig für die Unterstützung vor Ort, bei der Jobsuche oder bei der Bewältigung von Traumata." Auch Hilfsorganisationen oder Vereine zählen zu diesen Netzwerken.

Bekommen Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland mehr Geld als in anderen Staaten?

Entsprechend ihrer Vereinbarung müssen EU-Mitgliedstaaten den Menschen aus der Ukraine das Existenzminimum garantieren – bei der Umsetzung gewährt die EU jedoch einen gewissen Spielraum. Was die meisten Länder gemeinsam haben: Ukrainische Geflüchtete haben Zugang zu Krankenversicherung und Arbeitsmarkt. Auch staatliche Unterkünfte werden bei Bedarf oft organisiert.

Die Leistungen unterscheiden sich dennoch stark und lassen sich auch nicht ohne weiteres vergleichen. Zu diesem Schluss kommt eine Analyse der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages im Mai 2024, die im Auftrag der CDU-Abgeordneten Gitta Connemann erstellt wurde und die der Redaktion vorliegt. Auch Migrationsforscherin Yuliya Kosyakova warnt davor, Sozialleistungen für Geflüchtete in verschiedenen Ländern untereinander zu vergleichen – die Bedingungen seien einfach zu unterschiedlich.

Die Sozialsysteme funktionieren alle anders, teilweise unterscheiden sie sich sogar zwischen einzelnen Regionen. In manchen Ländern werden Geflüchtete automatisch in Unterkünften untergebracht, in anderen wird die Miete übernommen. Auch die Kaufkraft von geldwerten Leistungen unterscheidet sich von Land zu Land. Vor diesem Hintergrund einige der Beispiele aus der Analyse:

Bürgergeld in Deutschland bedeutet für eine alleinstehende Person unter anderem: 563 Euro pro Monat und Zahlungen für Miete und Heizung.

In Belgien erhalten Ukrainer und Ukrainerinnen die staatliche Sozialhilfe, die für alleinlebende Personen 1.288 Euro beträgt. Außerdem wird ihnen eine von den Gemeinden organisierte Unterkunft angeboten, wenn sie nicht privat unterkommen. Weitere Hilfen für Kleidung, Strom oder Einrichtung sind unter Umständen möglich. Auch in Österreich erhalten Menschen aus der Ukraine die sogenannte Grundversorgung.

In Polen dagegen gibt es generell keine dauerhaften Geldleistungen für Geflüchtete aus der Ukraine – lediglich Erwachsene mit Kindern erhalten eine monatliche Zuwendung pro Kind und Unterstützung für Betreuung und Schule. In Schweden erhalten Alleinstehende ein Tagesgeld von etwa 180 Euro je Monat für Essen, Kleidung und so weiter. Wenn sie ihre Unterkunft selbst organisieren, zahlen sie selbst – ansonsten wird ihnen von der schwedischen Migrationsbehörde eine Unterkunft zugewiesen.

Wie hoch ist die Beschäftigungsquote der Ukrainer und Ukrainerinnen?

In Bayern betrug die Beschäftigungsquote im März 2024 bei erwerbsfähigen Menschen aus der Ukraine rund 32 Prozent.

"Repräsentative Befragungen zeigen, dass im Sommer 2023 rund 23 Prozent der im Jahr 2022 zugezogenen ukrainischer Geflüchteten erwerbstätig waren", sagt Migrationsforscherin Yuliya Kosyakova. "Wir gehen davon aus, dass die Erwerbsquote unter diesen Personen in ganz Deutschland inzwischen auf rund 30 Prozent gestiegen ist." Unter Personen, die zum Befragungszeitpunkt nicht erwerbstätig waren, seien rund zwei Drittel in Bildung oder Integrationsmaßnahmen.

Deutschland liege im europäischen Mittelfeld, so die Professorin aus Bamberg. Wie etwa die Schweiz und Norwegen verfolge die Bundesrepublik einen "Sprache-Zuerst-Ansatz", um die Menschen dauerhaft in den Arbeitsmarkt integrieren zu können – am besten mit ihrer entsprechenden Qualifikation. Deshalb sehe man in den genannten Ländern zuerst niedrigere Beschäftigungsquoten, die dann aber stetig ansteigen. Erfahrungen mit den Geflüchteten aus 2015 und 2016 zeigten laut der Expertin, dass die deutsche Strategie erfolgreich sei.

Gibt es Ukrainer und Ukrainerinnen, die aufgrund von Sozialleistungen nicht arbeiten wollen?

Migrationsforscherin Yuliya Kosyakova wird bald eine neue Studie zur Integration von ukrainischen Geflüchteten in die europäischen Arbeitsmärkte veröffentlichen. Im Gespräch mit BR24 sagt sie, dass im Rahmen dieser Studie keine statistisch aussagekräftige Korrelation zwischen der Höhe der Versorgungsausgaben pro Kopf relativ zum mittleren Pro-Kopf-Einkommen und der Beschäftigungsquote ukrainischer Geflüchteter gezeigt werden konnte.

Eine drastische Kürzung der Leistungen in Dänemark im Jahr 2015 führte zu einem kurzfristigen Anstieg der Beschäftigung, so die Expertin – fast ausschließlich von prekären Beschäftigungen geflüchteter Männer. Der Effekt sei nach einigen Jahren entsprechend wieder verschwunden – verschlechtert hätten sich aber die Kriminalitätsrate und das Wohlergehen sowie der Schulerfolg geflüchteter Kinder. "Wir müssen über die strukturellen Probleme sprechen, die viele Geflüchtete vom Arbeitsmarkt fernhalten", meint Kosyakova.

Im Audio: Sabine Dahl disktutiert mit Experten, Kollegen und Hörern zum Thema Bürgergeld

Lebensmitteltafel in NRW
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Bedürftige holen Lebensmittel von der Tafel

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