Es hat sicher keinen tieferen Sinn, dass Olaf Scholz direkt bei seiner Ankunft im idyllischen Landgut Stober im brandenburgischen Groß Behnitz die Brennerei ansteuert. In dem roten Backsteinbau bespricht sich die Parteispitze noch einmal, bevor Scholz sich den Fragen der Abgeordneten stellt. Und Fragen gibt es viele. 33 Wortmeldungen sind überliefert, die allermeisten kritisch, lediglich eine Wortmeldung nimmt die aktuell äußerst angespannte Lage der SPD zum Anlass, das Kämpferherz in sich zu entdecken. Der Rest ist wie so viele in der SPD: verunsichert und reichlich unfroh. Und manch einer wird in seiner Kritik so deutlich wie nie.
Fraktionsklausur im Schatten der Wahlergebnisse
"Das Leben leichter machen" hatte man sich als Motto für die Fraktionsklausur gegeben, aber nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen ist nichts leichter geworfen für die Kanzlerpartei. Für die Union allerdings auch nicht, aber das ist nur ein schwacher Trost für die Abgeordneten, die sich eineinhalb Tage einschließen, um mit Landfrauen und Wissenschaftlerinnen über den ländlichen Raum zu diskutieren, um die vom Kanzler ausgerufene Transformation zu besprechen, um der Ukraine ihre unverbrüchliche Solidarität auszusprechen und um beim Thema Migration ihren Ärger über CDU-Chef Friedrich Merz Luft zu machen.
Merz zieht derzeit die Daumenschrauben an, was Olaf Scholz wenig Freude bereitet, aber Freunde werden der Kanzler und der Oppositionsführer ohnehin nicht mehr. Und Merz dient dieses Mal auch nicht mehr als Blitzableiter Nummer eins für die geschundenen SPD-Abgeordnetenseelen. Das Grummeln über das Wirken des Kanzlers wird lauter.
Fraktionschef Mützenich ist zunehmend genervt von der Regierung
So liegt es am Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, den Laden zusammenzuhalten. Die bevorstehende Landtagswahl in Brandenburg hilft ihm dabei, da sind Störfeuer aus den eigenen Reihen wenig hilfreich. Nur: was passiert, wenn Brandenburg für die SPD verloren geht? Mützenich betont zwar auf mehrfache Nachfrage, dass er seine Abgeordneten gar nicht zu disziplinieren brauche, aber das sonnige Gemüt des Rheinländers Mützenich hat sich in den vergangenen drei Jahren doch reichlich verschattet.
Angesichts der multiplen Krisen, aber auch angesichts der Ampelperformance, vor allem von Seiten der SPD-geführten Bundesregierung, die die Fraktion oft genug ausbaden musste. Und dann sind ja noch die individuellen Sorgen der Abgeordneten. Derzeit steht die SPD bei 15 Prozent in den Umfragen, mit der Wahlrechtsreform würde das bedeuten, von den aktuell 207 Abgeordneten würde es nur mehr die Hälfte in einen neuen Bundestag schaffen. Scholz allerdings will wieder als Kanzlerkandidat antreten, das hat er schon öfter verlauten lassen, er zweifelt am wenigsten an sich.
Der Rückhalt des Kanzlers in der Fraktion schwindet
Das übernehmen andere. Der Staatssekretär im Innenministerium, Mahmut Özdemir, hatte bereits direkt nach den verlorenen Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen via Facebook der Parteispitze vorgeworfen, die Ergebnisse schönzureden. In Nauen wiederholt er seine Kritik zwar nicht, aber die Zweifel am Kanzler wachsen. Auch in der Kanzlerpartei.
Und Fraktionschef Rolf Mützenich versichert zwar öffentlich, er stehe absolut hinter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler, aber den Namen Scholz spricht er nicht aus. Und wenn die Haushaltsverhandlungen platzen, weil FDP die Rente und die Grünen die Migration nicht mittragen: Wird Scholz dann weiter Kanzler sein können? Oder gibt es den sozialdemokratischen Kanzler Pistorius? Offen will diese Frage auf der Klausur keiner beantworten.
Wird Brandenburg zur Schicksalswahl für den Kanzler?
Der Verteidigungsminister ist auch vor Ort auf dem Landgut, geht von Stehtisch zu Stehtisch, wie gewohnt redselig, nahbar, zugänglich. Im jüngsten ARD-Deutschlandtrend hat er wieder fast dreimal so gute Werte in puncto Zufriedenheit wie der Bundeskanzler. Mitte Oktober will der Parteivorstand verkünden, wie die SPD die Bundestagswahl 2025 angehen wird. Aber könnte Pistorius überhaupt so etwas wie einen Bundestagswahlkampf stemmen? Und wie kommen seine Unterstützung der Ukraine und die Waffenlieferungen im Verbund mit der Nato im notorisch und meist offen Nato-skeptischen Osten an? Und gibt es überhaupt irgendjemanden in der Partei, der Scholz davon überzeugen könnte, nicht mehr der Richtige zu sein?
Diese vielen Fragen verdichten sich zu einem Bild: Olaf Scholz wird auch nach einer verlorenen Brandenburg-Wahl Kanzler sein und bleiben. Einen Putsch wie im Fall der vom Hof gejagten ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden Andrea Nahles will in der Partei nun wirklich niemand.
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