Vor wenigen Tagen ist es offenbar wieder passiert: Circa 20 Menschen sitzen auf dem Boden einer libyschen Polizeistation. Ein Videoanruf zeigt erschöpfte Männer, ihre Klamotten zerrissen, schmutzig vom Wüstensand. Erst wenige Stunden zuvor wurden sie von libyschen Milizen im Grenzgebiet zwischen Tunesien und Libyen aufgegriffen. Einer der Männer erzählt, er sei von tunesischen Sicherheitskräften dort ausgesetzt worden. Manche seien anschließend drei Tage durch die Wüste geirrt, bei über 40 Grad Celsius.
Dass es sich bei diesen Schilderungen nicht um einen Einzelfall handelt, sondern um ein System der Abschreckung von Migranten auf ihrem Weg nach Europa, zeigt eine rund einjährige gemeinsame Recherche des Bayerischen Rundfunks mit der Recherche-Organisation Lighthouse Reports, dem Spiegel und weiteren internationalen Medienpartnern. Die Reporterinnen und Reporter haben hunderte Videos ausgewertet und vertrauliche Dokumente gesichtet. Mehr als 50 Migrantinnen und Migranten haben ihnen geschildert, wie sie in den EU-Partnerländern Tunesien, Marokko und Mauretanien von Sicherheitskräften verschleppt wurden. Journalistinnen und Journalisten sind für die Recherche in diese Länder gereist und haben selbst Festnahmen und Verschleppungen gefilmt.
Mehr als hundert Millionen Euro für Tunesiens Grenzschutz
Alleine für Tunesien konnte das Rechercheteam 14 solcher Verschleppungsaktionen dokumentieren. Obwohl die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedstaaten von dieser Praxis wissen, kooperieren sie eng mit der dortigen Regierung bei der Eindämmung der Migration. Erst im vergangenen Sommer vereinbarten die EU und Tunesien ein entsprechendes Abkommen, das unter anderem Hilfen von 105 Millionen Euro alleine für den Grenzschutz vorsieht. Obwohl die EU-Kommission von Abschiebungen in die Wüste weiß, wurde die Kooperation nicht infrage gestellt.
Francois aus Kamerun wollte im September 2023 mit rund drei Dutzend weiteren Migranten mit einem Boot von Tunesien nach Europa übersetzen. Ein Boot der tunesischen Nationalgarde stoppte sie und drängte sie zur Rückfahrt. Anschließend wurden sie in Busse gezwungen, stundenlang verschleppt und im Niemandsland an der Grenze zu Algerien ausgesetzt – ohne Wasser, wie Francois erzählt. Fotos, Videos und GPS-Daten belegen die Schilderungen.
Auch Mauretanien und Marokko verschleppen Migranten
Auch die Bundesregierung kooperiert eng mit Tunesiens Sicherheitsbehörden. Seit 2015 bilden deutsche Bundespolizisten Mitglieder von Grenzpolizei und Nationalgarde aus, außerdem liefert Deutschland Ausrüstung und Pickup-Fahrzeuge. Laut Bundesinnenministerium flossen bislang 31 Millionen Euro für Ausbildung und Ausrüstung nach Tunesien.
Mit den Ergebnissen der Recherche konfrontiert, antwortet das Bundesinnenministerium, man habe "die Verbringung von Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten in das libysch-tunesische und algerisch-tunesische Grenzgebiet im Sommer 2023 mehrfach scharf und öffentlich kritisiert". Doch die Recherchen belegen, dass es seitdem immer wieder zu derartigen Aktionen kommt.
Das deutsche Innenministerium teilte außerdem mit, man lege großen Wert darauf, dass die gelieferte Ausstattung "ausschließlich für den vorgesehenen Zweck" verwendet werde. Die Menschenrechte von Geflüchteten und Migranten seien zu respektieren, dies sei "auch regelmäßig Gegenstand unserer Gespräche mit der tunesischen Seite".
Verantwortliche Staaten sind EU-Partner bei Migrationskontrolle
Wie Tunesien, zählen auch Marokko und Mauretanien zu den EU-Partnern zur Eindämmung der Migration aus Subsahara-Afrika. Erst im Februar reiste Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez nach Mauretanien. Die beiden versprachen dem Land rund eine halbe Milliarde Euro, auch zur Migrationskontrolle. Bundesinnenministerin Nancy Faeser verkündete im Januar eine engere Zusammenarbeit mit Marokko beim Thema Migration.
In Marokko filmten Reporter, wie Sicherheitskräfte Migranten jagen, festnehmen und in Busse zwingen, um sie mehrere hundert Kilometer entfernt auszusetzen. In Mauretanien dokumentierten sie, wie Migranten auf Lastwagen in ein Gefängnis und dann in Bussen an die Grenze zu Mali transportiert werden – in ein Gebiet, in dem Terroristen aktiv sind.
Spanische Beamte bekamen dort offenbar sogar Listen mit Namen von Migranten ausgehändigt, die später an der Grenze zu Mali zurückgelassen wurden. Fotos dieser Namenslisten liegen dem Bayerischen Rundfunk und seinen Recherchepartnern vor. In Videos von Festnahmen sind Fahrzeuge jener Modelle zu sehen, die den dortigen Sicherheitsbehörden von EU-Staaten geliefert wurden.
EU-Kommission: Man erwarte Respektierung der Menschenrechte
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wollte sich auf Anfrage dazu nicht äußern. Eine Sprecherin teilte mit, die EU erwarte von ihren Partnern, die Menschenrechte und die Menschenwürde aller Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchenden zu respektieren. Für die Strafverfolgungsbehörden in den Partnerländern seien die dortigen Behörden zuständig. Die Regierungen Tunesiens, Marokkos und Mauretaniens weisen die Vorwürfe auf Anfrage zurück.
Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt kritisiert Abkommen wie jenes mit Tunesien als Symbolpolitik: "Man möchte den Eindruck von Handlungsfähigkeit erwecken und moralische, menschenrechtliche Fragen spielen dabei eine sehr untergeordnete Rolle." Er appelliert auch an die von seiner Partei mitgetragene Bundesregierung, stärker für eine menschenrechtsorientierte Asylpolitik einzutreten.
Der Migrationsforscher Gerald Knaus wirft der EU Planlosigkeit vor: "Wenn wir nicht erklären, wie wir uns den Mechanismus vorstellen, der dazu führt, dass weniger Menschen in Boote steigen und es der Fantasie dieser Sicherheitskräfte überlassen, dann kommen Menschenrechtsverletzungen dabei heraus."
Mehr zum Thema bei report München, am 21.5.2024 um 21:45 Uhr im Ersten.
Mitarbeit an der Recherche: Klaas van Dijken, Nissim Gasteli und Andrei Popoviciu.
Im Video - Vorwürfe gegen Tunesien: Asylbewerber in der Wüste ausgesetzt
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