Es war ein eindeutiges Statement Selenskyjs, das er Ende vergangener Woche vor den EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel abgegeben hat. Ein freies Europa sei ohne eine freie Ukraine nicht denkbar. Doch über den Umkehrschritt wird in der öffentlichen Debatte äußerst selten gesprochen: Wäre mit einer unfreien Ukraine ein freies Europa undenkbar? Welche Konsequenzen hätte es, falls Russland auf Dauer weite Teile der Ost- und Südukraine militärisch beherrschen würde? Die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, Slowakei sowie die gesamte EU sähen sich einem aggressiv-militaristischen Diktator Wladimir Putin im Osten des Kontinents gegenüber sowie seines folgsamen Vasallen Lukaschenko in Belarus. Was würde das bedeuten?
Chaos in von Russland kontrollierten Bereichen
Russland-Expertin Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik lässt keinen Zweifel daran, dass dies gravierende Folgen hätte, in vielerlei Hinsicht. Es würde bedeuten, "dass die Bereiche, die Russland militärisch kontrolliert, im totalen Chaos versinken würden". Was sie damit meint: Eine solche Situation wäre vergleichbar mit dem, was sich unter russischer Regie in den sogenannten "Volksrepubliken" in Lugansk und Donezk in den vergangenen acht Jahren abgespielt hat. Mit dem Unterschied, dass dieses Szenario "um das Vielfache multipliziert" werden müsste.
In sicherheitspolitischer, wirtschaftlicher, sozioökonomischer Hinsicht wäre das Gebiet "ein schwarzes Loch", gleichermaßen menschenrechtlich und rechtsstaatlich. Dies hätte entsprechende Konsequenzen, auch im Blick auf neue Fluchtbewegungen und Migration. Die Ukraine selbst würde massiv destabilisiert. Das Ergebnis, so Fischer: Man hätte dann "dieses riesige Bermudadreieck der Instabilität, wenn man so will. Zwischen dieser in sich zusammenklappenden Ukraine, der Diktatur in Weißrussland und der Diktatur in Russland".
Zusammengebrochene Sicherheitsarchitektur Europas
Das Bild eines "riesigen Bermudadreiecks der Instabilität" macht den Begriff verständlicher, der seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder häufig verwendet wird: den Begriff der europäischen Sicherheitsarchitektur, die seit dem 24. Februar 2022 von Russland zum Einsturz gebracht worden ist. Dass von den zusammengebrochenen Pfeilern dieser jahrzehntelang stabilen Sicherheitsarchitektur in Europa in erster Linie die direkten Nachbarn dieses "Bermudadreiecks" getroffen werden, ist verständlich.
Die nordeuropäischen Länder, die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, Slowakei und Rumänien wollen aus wohlverstandenen eigenen nationalen Sicherheitsinteressen in ihren Anstrengungen nicht nachlassen, die Ukraine finanziell und militärisch nach Kräften zu unterstützen. Sie sehen die verheerenden Folgen eines Kriegsausgangs, der mit einer dauerhaften Annexion eines Fünftels des ukrainischen Staatsgebiets enden könnte, weitaus klarer als etwa Deutschland.
Daher, so Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik, müssten diese Konsequenzen für die eigene Sicherheit deutlicher thematisiert werden. Der Westen habe neben den Werten, "die natürlich in diesem Konflikt eine Rolle spielen, einfach sehr, sehr wichtige Sicherheitsinteressen im Hinblick auf Europa". Diese Sicherheitsinteressen könnten nur gewahrt werden, wenn Russland diesen Krieg eben nicht gewinnt.
Karte: Die militärische Lage in der Ukraine
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