hundeartiges Wesen als weißes Muster auf Schwarz
Bildrechte: Privatsammlung, Paris
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Jindřich Heisler, Ohne Titel. Aus der Serie "Vom gleichen Mehl", 1944. Ausschnitt.

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Antifaschismus und Surrealismus im Lenbachhaus München

Antifaschismus und Surrealismus im Lenbachhaus München

Beim Stichwort "Surrealismus" denken viele an Salvador Dalí und seine zerlaufenden Uhren oder Elefanten auf Streichholzbeinen. Zum 100. Jubiläum zeigt das Münchner Lenbachhaus den Surrealismus nun ganz anders: als politische Bewegung.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Die Welt am Morgen am .

Nein, diese Schau zeigt kein Best-of der verrücktesten surrealistischen Ideen, es gibt keine fließenden Uhren und auch kein Hummer-Telefon: Das Münchner Lenbachhaus zeigt den Surrealismus so, wie er sich selbst verstanden hat: als politische Bewegung, sagt Kuratorin Stephanie Weber: "Es gibt unseres Erachtens keinen Surrealismus, der nicht politisch ist, es muss immer gegeben sein, dass man die Gesellschaft, so wie sie ist, komplett verändern möchte."

Surrealismus als politische Bewegung

Der Surrealismus entstand parallel zum Faschismus, aber er war nicht nur genuin antifaschistisch, er war auch international: Von Prag über Paris, bis nach Kairo und Martinique verfolgt die Ausstellung seine Spuren. Alle gezeigten Künstlerinnen und Künstler litten unter den Faschisten, sie konnten nicht ausstellen und nicht veröffentlichen, hatten kein Geld und fürchteten um Leib und Leben. Doch egal wie groß die Nöte waren: Immer fanden sie eine Möglichkeit, Widerstand zu leisten. Ihre Freiheit lag in der Vorstellungskraft, im Glauben an eine andere Welt.

Vereint im Glauben an eine andere Welt

"Die KünstlerInnen, die wir zeigen, hatten eine Haltung: Die Welt, so wie sie ist, die reicht nicht aus, hier wollen wir nicht leben", erklärt Kuratorin Stephanie Weber. "Und das bezieht sich nicht nur auf Deutschland oder Frankreich, sondern auf eine Welt, die unter den falschen Prämissen läuft: kapitalistische Ausbeutung, Kolonialismus, Rassismus. Viele der Surrealisten der ersten Generation waren auch im 1. Weltkrieg, es zieht sich also auch ein Kriegstrauma durch die Bewegung und eine absolute Abneigung von allem, was mit Nation einhergeht."

Bildrechte: Archivo Privado de Fotografía y Gráfica Kati y José Horna
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Kati Horna und Wolf Hamburger (WoTi), Hitler-Ei, 1936, Schwarzweißfotografie. Ausschnitt.

Ein großes Ölgemälde der tschechischen Malerin Toyen alias Marie Čermínová zeigt ein weißblaues Korsett, das über graubraunem Untergrund schwebt. Die Szenerie erinnert entfernt an Felsen, ein Streifen Wasser zerschneidet das Bild von oben nach unten. Genauere Verortungen hat sie bewusst vermieden, es gibt keine Tiefenräumlichkeit, keinen logischen Bildraum, alles bleibt im Vagen. "Verlassene Höhle" heißt das Bild und es geht um nichts weniger als ein neues Sehen.

Kunst, in der es um etwas geht

Mit der – Zitat – "erbärmlichen Tagespolitik" wollten sich die Surrealisten zumindest in ihrer Kunst nicht auch noch beschäftigen müssen. Sie wollten nicht abbilden, sondern eine neue Welt erschaffen. Natürlich sind verfremdete und zerstückelte Körper oder die Auflösung jeder Bildlogik an sich schon Ausdruck und Zeichen der Zeit. Stephanie Weber: "Dieses "sur" im Surrealismus, das ist nicht gemeint als ein Eskapismus, wir schweben über allem, wir haben mit Gesellschaft nichts zu tun, sondern ganz im Gegenteil ist das die Einsicht, dass wir immer von Gesellschaft geprägt sind, uns nicht komplett aus ihr befreien können, und dass wir aber vielleicht mit den Methoden der Kunst die Dinge in ihrer Absurdität, wie sie eigentlich gegeben sind, darstellen können und so dagegen arbeiten."

Foto-Experimente im Untergrund

Mehr als drei Jahre lang versteckt die Malerin Toyen den jüdischen Künstler-Kollegen Jindřich Heisler in ihrer Wohnung, der dort vor allem Fotoexperimente macht: Wir sehen verzerrte Pferdeköpfe und Hunde wie in eine dünne Schicht Mehl auf schwarzem Untergrund gemalt. Doch die Verfremdungen reichen Heisler nicht, er zündet er das Material an, es entwickelt ein Eigenleben, lässt Muster wachsen, und macht aus den Werken Bilder des Loslassens, der freiwilligen Aufgabe jeder Herrschaft über das Material aber auch Bilder des Kontrollverlusts.

Bildrechte: Lenbachhaus / Galerie výtvarného umění v Chebu (GAVU Cheb)
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Toyen (Marie Čermínová): Verlassene Höhle, 1937. Auschnitt

Auch Schriftsteller und Dichter des Surrealismus werden in dieser außergewöhnlichen Ausstellung gewürdigt. Da ist etwa "La Main à plume", eine heute fast unbekannte Gruppe Surrealisten, Maler, Poeten, unter ihnen Jüdinnen und Juden und Trotzkisten, sehr jung, sehr widerständig. Sie entschieden sich in Paris zu bleiben und zu kämpfen. "Eigentlich besteht der surrealistische Akt darin, dass sie sagen: Wir kämpfen an der Waffe, aber wir zugleich schreiben wir Poesie, wir sind unter Besatzung, wir müssen uns verstecken, aber wir feilen an Sprache und das ist meines Erachtens eine typisch surrealistische Haltung: ein Bestehen auf der eigenen Vorstellungswelt", sagt Kuratorin Stephanie Weber.

Eine außergewöhnliche Ausstellung

Die Ausstellung erzählt unzählige Geschichten, vom spanischen Bürgerkrieg und Picassos Guernica, von Exil, Verfolgung und Widerstand in Frankreich, von der Flucht nach Martinique und anderswohin und auch von der Leerstelle Deutschland in den 30er Jahren: Einen deutschen Surrealismus hat es nicht gegeben, weil alle Künstler geflohen sind, Zeichnungen von Hans Bellmer und Wols aus einem französischen Internierungslager zeigen, was ein Deutscher Surrealismus hätte sein können.

"Aber hier leben? Nein danke." ist eine durch und durch kompromisslose Ausstellung, radikal tief, übervoll und klar, und so aktuell und wichtig, wie eine Kunstausstellung nur sein kann.

"Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus". Bis 2. März im unterirdischen Kunstbau des Münchner Lenbachhauses.

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