"Trumps Rede vor dem US-Kongress war voller bekannter Allgemeinplätze, die sich auf die Zukunft bezogen. Wenn es nichts zu berichten gibt, kommen immer die in der Ferne leuchtenden Verheißungen ins Spiel", so der russische Blogger Anatoli Nesmijan (121.000 Fans): "Am Ende erklärte er sogar, dass die amerikanische Flagge bald 'jenseits vom Mars' wehen werde. Wo soll das sein? Wir haben es hier mit einem Aktivisten zu tun, der bereits plant, mit einer Rakete in die Sonne zu fliegen."
Diese Art visionärer, aber völlig haltloser Prophezeiungen erinnern mehrere russische Beobachter sehr an den Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow (1894 - 1971). Der sagte im Januar 1959 voraus, die Sowjetunion werde die USA spätestens bis 1970 wirtschaftlich überflügeln, "vielleicht schon früher".
"Apfelbäume auf dem Mars"
Darauf bezieht sich zum Beispiel Dmitri Drise, der Chefkolumnist des russischen Wirtschaftsblatts "Kommersant": "Donald Trump hat dem Kongress nichts Wesentliches gesagt. Es waren lediglich Phrasen zu hören. Lasst uns zum Mars fliegen und alle möglichen Galaxien erobern. Das ist dasselbe, als Chruschtschow versprach, bis 1980 den Kommunismus einzuführen und 'alle Kapitalisten zu begraben'."
Tatsächlich hatte Chruschtschow im November 1956 in Warschau den dort anwesenden westlichen Botschaftern entgegengeschleudert: "Ob es Ihnen gefällt oder nicht, die Geschichte ist auf unserer Seite. Wir werden euch begraben." Einige der wichtigsten russischen Blogger erinnerten sich nach Trumps Auftritt an das Gedicht "Auf dem Mars werden Apfelbäume blühen" von Jewgeni Dolmatowski. Der Text erschien 1962 und steht für die grotesken Utopien der Chruschtschow-Ära.
Der im britischen Exil lebende russische Politologe Wladimir Pastuchow spottete: "Die Eingangsworte von Trump sind hinsichtlich ihrer Dimensionen die wortmächtigste Ankündigung, das Paradies auf Erden zu errichten, seit Chruschtschow auf dem 22. Parteitag der KPdSU [am 19. Oktober 1961] versprach, dass die gegenwärtige Generation des Sowjetvolkes unter dem Kommunismus leben werde."
"Beispielloser Wohlstand in naher Zukunft"
Blogger Dmitri Sewrjukow vermutete gar, Trump habe seine Rede an die Nation womöglich absichtlich auf den Vorabend der Wiederkehr von Stalins Todestag (5. März 1953) gelegt und wolle die "historische Erfahrung" wiederholen: "Trump könnte im Auge gehabt haben, dass Stalin bald darauf durch Chruschtschow ersetzt wurde, dessen Charakterzüge beim US-Präsidenten deutlich erkennbar sind. So wie Nikita Sergejewitsch dem sowjetischen Volk den raschen Aufbau des Kommunismus versprach, so verspricht Donald Trump seinen Wählern voller Leidenschaft einen beispiellosen Wohlstand in naher Zukunft, noch vor dem Ende seiner Amtszeit."
"Er hatte keine Ahnung, wer Chruschtschow war"
Dabei ist äußerst fraglich, ob Trump bei der Terminierung seiner Rede einen Gedanken auf den russischen Gedenkkalender verschwendet hat. Chruschtschows Urenkelin Nina hatte Trump bei einer Modenschau in Atlantic City persönlich kennengelernt und im vergangenen November in einem Interview gesagt: "Er hatte keine Ahnung, wer Chruschtschow war, aber wie später auch Joe Biden erzählte er mir, der Kapitalismus sei sein Ein und Alles und mit einem Trump Tower auf dem Roten Platz werde Moskau zu den besten Städten der Welt gehören. Falls es so was wie Vulgarität auf der Welt gibt, dann verkörperte sie Trump mit seinem Charakter."
BR24
Der kremlkritische Blogger Kirill Martinow fühlt sich bei Trumps Äußerungen ebenfalls an unselige sowjetische Zeiten erinnert: "Die Inhalte von Trumps Reden kommen einem sehr bekannt vor, wenn man sich länger mit der Diktatur in Russland oder anderen ähnlichen Diktaturen beschäftigt. Wie jeder Nationalpopulismus basiert er auf der Benennung von Feinden. Wenn Putins Feinde die Ukraine, der Westen, ausländische Agenten und die LGBT-Community sind, dann ist Trumps Feind ein Bündnis aus Bürokraten, Transgender-Personen und Migranten."
"Nur Satelliten halten sich an Regeln"
Russischen Lesern ist Trumps Pathos offenbar auch nicht fremd: "Lasst uns das rote Banner der Arbeit über der Erde hissen! Das haben wir schon einmal irgendwo gehört. Es sieht aus, als wäre Trump völlig durchgedreht", schrieb ein Kommentator in der St. Petersburger Zeitung "Fontanka".
Dagegen sind die russischen Ultrapatrioten von Trumps vermeintlich unbekümmertem Zukunftsglauben begeistert: "Es ist gerade die Fähigkeit, Verpflichtungen locker hinter sich zu lassen, Ballast abzuwerfen und Vermögenswerte abzustoßen, wenn diese unrentabel geworden sind, die eine Großmacht von einem Satellitenstaat unterscheidet", so der Orientalist Nikolai Sewostjanow: "Der Satellit hält sich an Regeln, die Zentralmacht (regional oder planetarisch, das macht keinen Unterschied) legt sie fest und bestraft diejenigen streng, die versuchen, sich dieses Recht selbst anzumaßen."
Der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew erinnerte übrigens daran, dass die USA gegen Chruschtschow trotz "Streitereien bis zur Heiserkeit" niemals Sanktionen verhängt hätten und der neue russische Botschafter in den USA, Alexander Darchijew, sagte gegenüber der Nachrichtenagentur TASS, er habe zur Vorbereitung seines neuen Amts in Washington ein Buch seines Landsmanns Wjatscheslaw Nikonow gelesen: "1962. Chruschtschow. Kennedy. Castro. Wie die Welt fast untergegangen wäre".
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!