"Die jüngsten Nachrichten werden die ukrainische Gesellschaft – trotz der Kritik an Selenskyj selbst in der Ukraine – eher einigen als verzweifeln lassen", so der kremlkritische russische Politloge Wladislaw Inosemtsew: "Noch immer gibt es in der Ukraine genügend Waffen und die Mobilisierungsreserven sind nicht so ausgeschöpft wie oft angenommen wird. Natürlich finden die Kämpfe auf ukrainischem Territorium statt, aber ein großer Teil der Gesellschaft hat sich daran gewöhnt und ich glaube nicht, dass es an der Front in naher Zukunft zu dramatischen Rückschlägen kommt."
"Wer wird die Löcher stopfen?"
Dagegen gibt sich der in London lehrende russische Politikwissenschaftler Wladimir Pastuchow (163.000 Fans) vorsichtiger: "Ich weiß nicht, wie realistisch der Konsens innerhalb der ukrainischen Bevölkerung in der Frage einer Fortsetzung des Krieges ist, unabhängig von den Kosten."
Pastuchow stellt sich und seinen Lesern die Frage, ob Putin derzeit über ausreichende militärische Mittel für eine neue Offensive verfügt. "Wenn nicht, wird die Situation für Selenskyj viel einfacher sein. Wenn ja, muss Selenskyj ein einfaches Problem lösen: Wer und was wird die Löcher an der Front stopfen?"
Trump: "Was denken die sich dabei?"
Selenskyj hatte nach dem Eklat im Weißen Haus behauptet, das Kriegsende sei "sehr, sehr weit entfernt" und die Erwartung geäußert, weiterhin US-Militärhilfe zu erhalten. Donald Trump reagierte auf "Truth Social" mit dem Post: "Das ist die schlechteste Aussage, die Selenskyj machten konnte und Amerika wird sich das nicht lange gefallen lassen! Das ist es, was ich meinte: Dieser Kerl will keinen Frieden, solange Amerika ihn unterstützt. Europa hat bei dem Treffen mit ihm ausdrücklich erklärt, dass es das nicht ohne die USA tun kann - wahrscheinlich nicht die beste Äußerung im Hinblick auf eine Machtdemonstration gegenüber Russland. Was denken sie sich dabei?"
Die wahre militärische Lage ist derweil im Nebel der gegenseitigen Propaganda verborgen. Allerdings zeigen sich russische Militärblogger alarmiert über eine angebliche "Krise an der Front", Putins Armee ist demnach ausgelaugt und unterversorgt: "Die Offensive der russischen Streitkräfte wurde endgültig gestoppt und mancherorts hat sogar ein Zurückweichen begonnen. Von einem Durchbruch an der Front wagt derzeit niemand zu träumen. Doch auch ein Vorankommen im Schneckentempo ist aufgrund des Personal- und Waffenmangels kaum möglich."
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Russland gehe schlicht das Geld aus, um ein weiteres Jahr intensiv weiterkämpfen zu können, so diese Argumentation. Einer der wichtigsten russischen Beobachter, Juri Podoljak (3,12 Millionen Follower), nennt die Lage an einigen Frontabschnitten "kompliziert": "Gleichzeitig sind die Kämpfe, um ehrlich zu sein, hart. Dem Feind gelang es, örtlich eine Kräfteüberlegenheit aufzubauen. Bisher ist es sehr schwierig, seine Schläge abzuwehren. Sollte der Feind den Druck weiter erhöhen, wird das die Verlegung zusätzlicher Kräfte erforderlich machen."
"Strategisch völlige Sackgasse"
Auch Propagandisten wie der Polit-Blogger Juri Barantschik stellten fest, dass sich der russische Vormarsch an den Fronten in den letzten Monaten immer mehr verlangsamte: "Der unmittelbare Grund dafür liegt darin, dass der Feind sehr großzügig Reserven einsetzt." Was an Gerüchten russischer Telegram-Kanäle dran ist, wonach Moskaus Militärführung derzeit in "Krisensitzungen" über "Flächenbombardements" zur völligen Ausschaltung der ukrainischen Infrastruktur nachdenkt, ist wegen der anonymen Quellen fraglich.
Blogger Anatoli Nesmijan ist so oder so skeptisch hinsichtlich Selenskyjs Zukunft: "Offenbar hat Selenskyj von den Europäern und den Briten ausreichende Garantien erhalten und wird daher seine Konfliktlinie mit den USA fortsetzen. Strategisch gesehen ist das natürlich eine völlige Sackgasse, doch die Ukraine ist kein handelndes Subjekt, sie kann sich nur aussuchen, welchem Herrn sie dient. Und 'wählen' ist ein starkes Wort; auch die Wahl wird für sie getroffen."
"Völker, über die wir nichts wissen"
Der kremlkritische russische Politologe Andrei Nikulin fühlt sich angesichts von Trumps Verhalten gegenüber der Ukraine an das Münchner Abkommen von 1938 erinnert, bei dem Hitler die Briten und Franzosen über den Tisch zog, um große Teile der damaligen Tschechoslowakei zu annektieren.
Nikulin zitiert sarkastisch eine Radioansprache des damals amtierenden britischen Premierministers Neville Chamberlain vom 27. September 1938: "Wie entsetzlich, aberwitzig und unglaublich wäre es, wenn wir hierzulande Schützengräben ausheben und Gasmasken anlegen für eine Streiterei zwischen zwei Völkern, über die wir nichts wissen, in einem weit entfernten Land."
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