Derzeit beheize Russland mit seinem kriegsbedingten Wirtschaftswachstum ein "Haus ohne Dach", so der kremlfreundliche Blogger Dmitri Sewrjukow (externer Link) ironisch über die beschleunigte Inflation, die er als "heimtückisch" bezeichnete: "Sowohl die oberen als auch die unteren Gesellschaftsschichten haben verstanden, dass es an der Zeit ist, etwas gegen die Inflation zu unternehmen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das wachsende Problem sogar das bisschen Stabilität untergräbt, das die Behörden der Bevölkerung garantieren".
"Verschlechterung der Stimmung verhindern"
Russland müsse sich einer ganzen Reihe von "Bedrohungen" erwehren: der westlichen Sanktionen, der Ernterückgänge und einem Verfall des Rubels, aber auch höherer Zölle und einer Nachfrage, die das derzeitige Warenangebot deutlich übersteige: "Das Ungleichgewicht ist so gravierend, dass das zuvor fragile Gleichgewicht gestört ist und das Land buchstäblich in die Zange genommen wurde."
Ähnlich äußerte sich Politologe Ilja Gratschtschenkow (externer Link), der "Kartellabsprachen" vermutete, hinter denen sich Teile der Wirtschaft im Windschatten der Inflation bereicherten: "Für die Zentralbehörden wird es zunehmend dringlicher, die Situation im Hinblick darauf zu bewältigen, dass die Inflation länger andauern wird. Die Verantwortlichen in den Regionen müsse darüber hinaus eine spürbare Verschlechterung der gesellschaftlichen Stimmung verhindern."
Putin: "Eine Herausforderung"
Kreml-Chef Wladimir Putin (externer Link) kam bei einem Treffen mit Ministerpräsident Michail Mischustin kürzlich nicht umhin, die außer Kontrolle geratene Geldentwertung selbst anzusprechen: "Unsere Inflationsrate betrug letztes Jahr 9,5 Prozent, am 3. Februar dieses Jahres lag sie nach meinen Informationen im Jahresvergleich schon bei 9,9 Prozent. Das ist für uns eine Herausforderung: Wir müssen alles Notwendige tun, um ein ausgewogenes Wachstum zu gewährleisten." Wie glaubwürdig die genannten Zahlen sind, darüber gehen die Meinungen auseinander.
BR24
Der als "ausländischer Agent" gebrandmarkte Blogger Igor Lipsitz (externer Link) spottete, die russische Statistikbehörde sei gezwungen, die Lage nach Kräften zu beschönigen. So befänden sich in dem für die Berechnung der Inflation maßgeblichen Warenkorb Kameras, Armbanduhren und Blutdruckmessgeräte, deren Preise deutlich weniger stiegen als die für Butter und Eier. Die Zentralbank müsse den Zinssatz eigentlich von derzeit 21 Prozent auf 45 Prozent, wie in der Türkei, anheben, um dem wahren Ausmaß der Krise begegnen zu können.
Derweil hatte die Zentralbank in ihrem neuesten Trendbericht ein sehr pessimistisches Urteil gefällt (externer Link), das für heftige Debatten sorgte: "Es gibt noch keine Anzeichen für den Übergang zu einer nachhaltigen Verlangsamung des Preiswachstums."
"Es ist wie das Sonnenlicht"
Andrei Gangan, Leiter der geldpolitischen Abteilung der Zentralbank, hatte in einem aufschlussreichen Interview mit der Nachrichtenagentur Interfax (externer Link) Ende Dezember ein Gleichnis aus der Astronomie bemüht: "Der Preisanstieg, den wir momentan beobachten, ist das Ergebnis von Ursachen, die sich über den Großteil des zurückliegenden Jahres aufgebaut haben. Es ist wie beim Sonnenlicht, das acht Minuten braucht, um uns zu erreichen, und wer weiß, was in der Sonne gerade noch passiert." Das kremlnahe Zentrum für makroökonomische Analysen und Prognosen (CMAF) (externer Link) sagte voraus, die Russen müssten sich wegen der rasanten Geldentwertung auf weiter sinkende Realeinkommen und wirtschaftliche Stagnation einstellen.
Blogger Anatoli Nesmijan (externer Link) sprach von einem "klassischen Todeskampf eines Sterbenden". Die von der Propaganda verbreiteten wirtschaftlichen Jubelmeldungen seien "schlicht gefälscht": "Die Zentralbank versucht, sich jeder weiteren Verantwortung zu entziehen, was grundsätzlich logisch ist, da sie außer den geldpolitischen Instrumenten über keine anderen verfügt und die aktuelle Krise nicht monetärer Natur ist."
Auch andere wichtige Polit-Blogger spotteten (externer Link), in Russland würden neuerdings "Todesqualen als Lebenszeichen" gewertet: "Es hat keinen Sinn, mit einer Tankstellenökonomie, die völlig von anderen Ländern abhängig ist, für eine neue Weltordnung kämpfen zu wollen." Die Wirtschaft sei an ihrer "physischen Grenze", die Lebensmittelinflation liege tatsächlich bei rund 23 Prozent.
"Einer fährt, alle zittern"
Es gebe zwei völlig unterschiedliche Milieus in Russland, analysierte ein weiterer Kolumnist (externer Link). In Moskau müsse mancher wegen der Inflation seine Ausflüge nach Dubai einschränken, auf dem Land vergammelten die Supermärkte: "Die Menschen beginnen, der Sinnlosigkeit ihres Strebens überdrüssig zu werden. Auch deshalb, weil das Bild, das die Behörden zeichnen, immer stärker im Widerspruch zu dem steht, was sie mit eigenen Augen sehen."
In Hunderten von Leserkommentaren, etwa der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" (externer Link) hieß es unter anderem: "Es ist eine Situation wie in der Straßenbahn: Einer fährt, alle zittern." Oder auch: "Wann werden diese verdammten amerikanischen Dosen mit Trockenmilch wieder ausgegeben? Natürlich nur unter strengster Geheimhaltung."
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