Bei einem Treffen mit dem russischen Verkehrsminister
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Putin am 31. Januar 2025 im Kreml

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"Eine Art Besessenheit": Gäbe Putin bei Selenskyj-Rückzug nach?

"Eine Art Besessenheit": Gäbe Putin bei Selenskyj-Rückzug nach?

Seit langem verbreitet der Kreml die Propaganda-Mär, der ukrainische Präsident sei kein "legitimer" Gesprächspartner. Putin sei total darauf fixiert, Selenskyj von der Macht zu verdrängen, argumentieren Experten: Eine "pathologische" Frage?

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Das Hauptziel der [von Putin so bezeichneten] 'Spezialoperation' ist ein Regimewechsel im Nachbarland. Um jeden Preis. Das sollte nicht vergessen werden. Nicht etwa der 'Schutz der Kinder im Donbass, der russischen Sprache und der traditionellen Werte', alles nur Dekoration für den Krieg, sondern ein Regimewechsel in Kiew. Ganz persönlich. Alles andere ist Tarnung", so der kremlkritische russische Politologe Andrei Kalitin, der mit dieser Ansicht nicht allein dasteht (externer Link). Demnach ist Russlands Präsident Wladimir Putin dermaßen darauf fixiert, Wolodymyr Selenskyj aus dem Amt zu drängen, dass er dafür bereit wäre, den Krieg zu beenden.

"Gut für die Demokratie"

Dazu ein viel zitierter Polit-Blogger (externer Link): "Es ist kein Geheimnis, dass Wladimir Putin eine Marotte hat, die er nicht abschütteln kann, selbst wenn er wollte: niemals den Namen der jeweils 'unbeliebtesten Person' oder des 'unangenehmsten Phänomens' auszusprechen. Selenskyj hat Nawalny (Putin nimmt dessen Namen immer noch nicht in den Mund) als 'Staatsfeind Nummer eins' abgelöst. Deshalb ist die 'Entsorgung Selenskyjs' für Putin keine rationale, sondern eine höchst subjektive, nur pathologisch erklärbare Aufgabe. Eine Art Besessenheit."

Solche Einschätzungen führten zur Spekulation, Putin sei zu einem Waffenstillstand und sogar zu territorialen Zugeständnissen bereit, wenn sich Selenskyj zurückziehe. Weil Keith Kellogg, Donald Trumps Sonderbeauftragter für die Ukraine, kürzlich in einem Interview mit der britischen Nachrichtenagentur Reuters (externer Link) angedeutet hatte, die USA wollten auf Präsidentschaftswahlen in der Ukraine bis Ende des Jahres drängen, wurde die Debatte befeuert. "Die meisten demokratischen Länder halten in Kriegszeiten Wahlen ab. Ich halte es für wichtig, dass sie das tun. Ich denke, das ist gut für die Demokratie", so Kellogg.

Selenskyj hatte in einem Interview mit dem britischen Journalisten Piers Morgan (externer Link) gesagt, er könne sich direkte Verhandlungen mit Putin vorstellen, werde aber "nicht nett" zu ihm sein, da er ihn als Feind betrachte, was umgekehrt wohl auch gelte. Zu seiner vom Kreml angezweifelten Legitimität sagte Selenskyj, er sei mit 73 % der Wählerstimmen ins Amt gekommen: "Während des Krieges kann es keine Wahlen geben. Wie sollen Millionen von Menschen in den besetzten Gebieten abstimmen?" Acht Millionen Ukrainer lebten als Flüchtlinge im Ausland.

"Gegenteil des Gewünschten"

Der in London lehrende russische Politologe Wladimir Pastuchow bezeichnete es (externer Link) als "beunruhigend", sollte Trump tatsächlich bereit sein, Putin in der Frage eines Selenskyj-Rückzugs entgegenzukommen. Das spiele nur dem Kreml und dessen Propaganda-Lüge von der "Illegitimität" Selenskyjs in die Hände. Im Übrigen könne Selenskyj erneut kandidieren: "Sobald allen klar wird, dass dessen Absetzung die zentrale Forderung Moskaus ist, wird sich der Charakter der Wahl ändern - und zwar ins Gegenteil des Gewünschten, nach dem Motto: wenn Moskau gegen Selenskyj ist, dann werden wir ihn erst recht wählen, auch wenn er niemandem mehr nützt."

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Politologe Georgi Bovt verwies darauf (externer Link), dass es keine rechtlich saubere Möglichkeit gebe, Selenskyj gegen dessen Willen loszuwerden, weil die ukrainische Verfassung Wahlen unter Kriegsrecht ausschließe: "Es kann also sein, dass die Legitimität einer Person, die unter solchen Bedingungen gewählt wird, auch wieder in Zweifel gezogen würde. Wenn wir an einen Militärputsch denken, stellt sich erst recht die Frage nach der Anerkennung."

"Fällt schwer, an solche Wendung zu glauben"

Der kremlkritische Blogger Anatoli Nesmijan hielt solche Bedenken für lächerlich (externer Link) und spottete, weder in der Ukraine, noch in Russland seien Wahlen in den letzten Jahren jemals "legitim" gewesen. Putin lasse Millionen von Stimmen fälschen, in der Ukraine sei es ebenfalls nicht immer mit rechten Dingen zugegangen: "Und nichts geschah – sie alle waren völlig legitime und anerkannte Staatschefs. Sollten die Wahlen also nicht streng nach Plan verlaufen, wird überhaupt nichts passieren."

Dmitri Drise, der Kolumnist des Wirtschaftsblatts "Kommersant", urteilte kühl (externer Link): "Gehen wir mal davon aus, dass Selenskyj davon überzeugt werden kann, an den Wahlen nicht mehr teilzunehmen. Nehmen wir weiter an, dass ein gemäßigt prorussischer Kandidat siegt. Moskau macht keinen Hehl daraus, dass das ein äußerst wünschenswertes Szenario wäre. Ehrlich gesagt fällt es schwer, an eine solche Wendung der Ereignisse zu glauben."

Politologe Alexei Jaroschenko sagte im Einklang mit Putins Propaganda, der Krieg könne nicht unterbrochen werden, weil Russland kein Gegenüber habe für eine Vertragsunterzeichnung (externer Link): "Man muss Verträge unterzeichnen, ohne zu wissen, mit wem und für wie lange."

Kreml-Propagandist Sergei Markow fasste das angebliche Dilemma so zusammen (externer Link): "Selenskyj kann keine Verhandlungen führen, da sie sein eigenes Dekret verbietet. Er kann sein Dekret jedoch nicht widerrufen, da er kein legitimer Präsident ist."

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