"Natürlich kann ein Land, das sich einer gewaltsamen Invasion erwehren muss, keine Wahlen abhalten. In Großbritannien gab es von 1935 bis 1945 auch keine Wahlen", so der frühere britische Premierminister Boris Johnson in einem Tweet. Tatsächlich fanden auf der Insel zwischen dem 14. November 1935 und dem 5. Juli 1945, kriegsbedingt keine Unterhaus-Wahlen statt. Unmittelbar nach dem Sieg über NS-Deutschland stellte sich Premierminister Winston Churchill dann den Wählern und verlor prompt seine politische Mehrheit.
Putin bekam angeblich 88 Prozent
Jetzt, nachdem US-Präsident Donald Trump dem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj vorgeworfen hat, er sei ein "Diktator ohne Wahlen", ist das historische Vorbild Großbritanniens plötzlich in aller Munde. Selenskyj war am 21. April 2019 mit knapp 75 Prozent der gültigen Stimmen in einer Stichwahl auf die Dauer von fünf Jahren zum Präsidenten gewählt worden. Demnach endete seine reguläre Amtszeit am 20. Mai 2024. Allerdings schreibt die ukrainische Rechtslage vor, dass Wahlen frühestens sechs Monate nach Aufhebung des Kriegsrechts abgehalten werden können.
Putin und seine Propagandisten argumentieren, Selenskyj habe jede Legitimität verloren und sei nicht mehr berechtigt, rechtswirksame Unterschriften zu leisten. Putin selbst hatte sich im März 2024 im Amt bestätigen lassen: Angeblich bekam er 88 Prozent der Stimmen.
Kreml will in Kiew eine Marionette
Propagandist Oleg Sarow versuchte das Argument, Wahlen seien in Kriegszeiten nicht möglich, mit dem Hinweis auf Südvietnam und den Iran zu entkräften: Dort sei ungeachtet von Kriegen gleich mehrmals "gewählt" worden. Die USA hätten sich nicht mal vom Bürgerkrieg von den Urnen abhalten lassen und Frankreichs Nationalversammlung sei im Februar 1871 auch während eines "dreiwöchigen Waffenstillstands" im Krieg mit Preußen gewählt worden.
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Kreml-Lobredner wie Sergei Markow behaupten, in der Ukraine seien überhaupt alle Wahlen seit der Revolution von 2014 "illegal und verlogen". Der "Politologe" fordert, dass in Russland lebende ukrainische Politiker beim nächsten Urnengang eine "faire Chance" haben müssten - eine Umschreibung dafür, dass der Kreml in Kiew eine Putin genehme Marionette installieren will.
"Für Selenskyj wird das katastrophal"
Putin habe international überhaupt kein Problem, mit höchst zweifelhaften Staatsmännern ins Gespräch zu kommen, so Blogger Anatoli Nesmijan (121.000 Fans): Russland verhandle mit dem neuen Machthaber Syriens, Ahmed Al-Sharaa, der vor kurzem noch als "Terrorist" gegolten habe und sich für mindestens vier Jahre keiner Wahl stellen wolle. Auch mit den Taliban in Afghanistan spreche Moskau, ohne jemals demokratische Maßstäbe einzufordern.
Der ukrainische Präsident wäre aber gut beraten gewesen, so Nesmijan, wenn er sich eine Bestätigung des Verfassungsgerichts geholt hätte: "Selenskyj verhielt sich aber nicht wie ein gewöhnlicher Politiker, sondern entschied, dass er das Recht habe, seine Machtbefugnisse einfach aus eigenem Antrieb auszuweiten, und jetzt wird das für ihn katastrophal."
"Kreml versteht das nicht"
Der in London lehrende Politologe Wladimir Pastuchow hatte bereits Anfang Februar bezweifelt, ob Trump gut beraten ist, in der Ukraine baldige Wahlen durchzusetzen: "Sobald für alle klar wird, dass die Absetzung Selenskyjs die wichtigste Forderung Moskaus ist, wird sich der Charakter der Abstimmung ändern – sie wird sich ins Gegenteil verkehren, nach dem Motto: Wenn Moskau gegen Selenskyj ist, werden wir ihn erst recht wählen."
Putin mache sich Illusionen, wenn er in Kiew eine "Marionette" installieren wolle, argumentiert ein weiterer tonangebender russischer Blogger mit 46.000 Fans: "Einen solchen Kandidaten gibt es nicht. Sollte es ihn geben und Selenskyj die Art von Diktator sein, als den ihn die russischen Staatsmedien darstellen, dann wird ein prorussischer Kandidat freie Wahlen schlicht nicht überleben. Scheint offenkundig, aber der Kreml versteht das nicht."
Dagegen meint Politologe Andrei Nikulin, der Kreml werde bei einer Präsidentschaftswahl darauf bestehen, dass auch alle Ukrainer in den von Russland besetzten Gebieten teilnehmen dürften, was bei der "richtigen Auszählung" ein "recht umfangreiches Stimmenpaket von ein paar Millionen" ausmachen werde: "Theoretisch ist es möglich, Selenskyj und eine Reihe unbequemer Figuren auszuschalten oder zu schwächen. Darüber hinaus würde es zusätzliches Chaos in den politischen Prozess bringen."
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