Lange Antworten auf kurze Fragen: Der russische Außenminister Sergei Lawrow nahm sich viel Zeit für den US-Journalisten (und rechten "Verschwörungstheoretiker") Tucker Carlson, vermied jedoch konkrete Aussagen (externer Link). So blieb völlig offen, unter welchen Bedingungen Putin einem Waffenstillstand im Ukrainekrieg zustimmen könnte. Gefragt, ob dazu zum Beispiel die Aufhebung der von westlichen Ländern verhängten Sanktionen gehöre, sagte Lawrow ausweichend: "Ich glaube, je länger wir unter diesen Sanktionen leben, desto mehr verstehen wir, dass es besser ist, uns auf uns selbst zu verlassen."
Solche und ähnliche Floskeln empörten russische Blogger, und zwar Ultrapatrioten wie Systemkritiker gleichermaßen, zumal deren Nerven wegen des "Zusammenbruchs" des von Russland unterstützten Assad-Regimes in Syrien ohnehin gerade blank liegen.
"Falsche, versöhnliche Signale"
"In Lawrows Interview fehlt das Wichtigste: Unser Wille", schrieb etwa der populäre Kolumnist Alexei Schiwow (116.000 Fans; externer Link). Das Gespräch sei vielmehr ein "zaghafter Versuch", die jüngere Außenpolitik zu verteidigen: "Man hat das Gefühl, dass die gesamte Geschichte der letzten 10 Jahre eine Kette von Unfällen ist, auf die unser Land spontan reagiert hat." Lawrow habe kein Wort über einen notwendigen Regimewechsel in Kiew verloren.
Außerdem habe er versäumt, darauf hinzuweisen, dass ehemalige Sowjetrepubliken nicht die "Freiheit" hätten, systematisch gegen den Kreml vorzugehen, was wohl auf Länder wie Georgien und Armenien zielte. Der aufgebrachte Blogger: "Sobald das geschieht, hat Russland das Recht, eine Prüfung der gewährten Freiheiten durchzuführen."
Der ebenfalls viel gelesene Oleg Zarew (343.000 Fans) fürchtet, dass Lawrow falsche, nämlich versöhnliche Signale gesendet habe: "Jetzt könnten die Amerikaner das irreführende Gefühl haben, Russland fordere in erster Linie, dass die Ukraine nicht NATO-Mitglied wird und keine ausländischen Truppen stationiert, sowie die Anerkennung der territorialen Realitäten. Aber das ist nicht so."
Es sei "seltsam", dass Lawrow die Gelegenheit nicht genutzt habe, die russischen Forderungen "Punkt für Punkt" aufzuzählen. Propagandist Juri Barantschik wollte Lawrows Interview partout als weitere Drohung aufgefasst sehen und erinnerte an russische Langstreckenraketen.
Politologe Dmitri Michailitschenko bezeichnete das Lawrow-Interview als "Aufwärmphase für die Normalisierung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland", es sei in erster Linie an amerikanische Wähler gerichtet: "Das ist kein Schritt zur Vollendung der Spezialoperation, sondern zur Lösung des Problems der umfassenden Sicherheit zwischen Russland und den USA. Bis dahin ist es noch weit hin, aber wenn dieser Punkt erst mal angegangen wird, wird es eine Entspannung geben." Der Weg sei steinig und mit vielen Umwegen verbunden, aber absehbar.
"Nicht nur Ziele in Europa"
Für den kremlkritischen Blogger Anatoli Nesmijan hat Lawrow dagegen die "Messlatte deutlich gesenkt": "Dabei stellt sich logischerweise die Frage: Warum dann das alles?". Ein weiterer Kommentator mit 157.000 Followern spottete, die Ultrapatrioten würden geradezu "verrückt" sein nach den Kompromissen, zu denen Putin demnächst gezwungen sein werde: "Der Kreml versteht das sehr gut, weshalb er bereits Propagandahandbücher für die 'gleichgültige passive Mehrheit' ausgibt, die erleichtert sein soll, das Ende des Spezialoperation zu akzeptieren, selbst wenn zweifelhafte Ergebnisse als Sieg verkauft werden." Dem Lawrow-Interview nach zu urteilen, werde der Kreml als Nächstes den Patrioten "die Knochen brechen", also den Kriegsfanatikern.
"Chance offen gesagt verpasst"
Der Chefkolumnist der auflagenstarken "Moskowski Komsomolez", Michail Rostowski, schrieb hoffnungsvoll: "Nachdem Moskau seine Fähigkeiten bei Militäreinsätzen unter Beweis gestellt hat, ist es nun bereit, auf Diplomatie zu setzen." Lawrow habe "lautstark" einen diplomatischen Kompromiss eingefordert.
Das ironische Fazit eines weiteren Kommentators: "Es muss zugegeben werden, dass Lawrows Interview im Gegensatz zu Putins Interview [mit Tucker Carlson], das in den Vereinigten Staaten eine erhebliche Propagandawirkung hatte, nicht die gleiche Wirkung entfalten wird. Und zwar nicht deshalb, weil Lawrow nur Minister und kein Präsident ist. Aus Sicht der russischen Interessen wäre es nötig gewesen, Donald Trump zu loben, so wie die Amerikaner Michail Gorbatschow in den 80er Jahren in den Himmel hoben, aber Lawrow hat diese Chance offen gesagt verpasst."
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