Putins Kriegswirtschaft sieht sich vor immer neue Herausforderungen gestellt. In der Region Tatarstan machten die Behörden jetzt den Vorschlag, Jugendliche in der Chemie-, Maschinenbau- und Gefahrstoff-Industrie einzusetzen, weil es an Fachkräften fehle: "Die Migranten packen wirklich ihre Koffer. Wer wird in Russland noch arbeiten, wenn niemand mehr da ist, der dazu fähig ist?" fragt die auflagenstarke Zeitung "Moskowski Komsomolez".
Dort war auch zu lesen, dass ein ukrainisches Leichtflugzeug ein Wohnheim in der Stadt Jelabuga angegriffen habe, rund 1.200 Kilometer von der Front entfernt. Angeblicher Grund dafür: Dort seien "Studenten" untergebracht, die "im Rahmen ihres Lehrplans" Einweg-Kampfdrohnen nach iranischem Fabrikationsmuster zusammenbauen müssen ("HESA Shaded 136").
"Daher sind alle Mittel recht"
"Offenbar war das Ziel des heutigen Angriffs das Wohnheim des Polytechnikums. Der Feind versucht, Schüler und ihre Eltern so einzuschüchtern, dass sie sich weigern, ihr Studium fortzusetzen und bei einem Rüstungsunternehmen zu arbeiten. Tatsächlich handelt es sich um einen weiteren Terroranschlag, den die Ukraine auf russischem Territorium verübte", heißt es in dem Moskauer Blatt.
Der spektakuläre Luftangriff hält russische Medien einerseits wegen der großen Entfernung von der Front in Atem - so wurde spekuliert, ukrainische "Saboteure" hätten das Leichtflugzeug womöglich in Kasachstan gestartet -, andererseits sorgen der offenbar dramatische Arbeitskräftemangel und der Ruf "Minderjährige an die Maschinen" für immer neue Negativ-Schlagzeilen. "Es herrscht Personalmangel im Land, daher sind alle Mittel recht", werden Regionalpolitiker zitiert. Die Berufsschulzeit soll demnach verkürzt werden, damit Jugendliche bereits mit 15, 16 Jahren in die Produktion geschickt werden können. Auch Frauen sollen mehr als bisher für die Werkbänke in der Rüstung mobilisiert werden.
Probleme bei der Müllbeseitigung
"Ich glaube, dass die nächste Initiative des Gesetzgebers Jugendliche nicht nur zu gefährlichen Arbeiten drängen, sondern diese von ihnen sogar erzwingen wird, und zwar durch Pflichteinsätze nach der Hochschulreife. Es scheint, dass alles darauf ausgerichtet ist, da es nicht genug Arbeitskräfte gibt", schreibt die "Moskowski Komsomolez"-Reporterin.
Mit dieser düsteren Prognose steht die Journalistin keineswegs allein da. Selbst die regierungsnahe Nachrichtenagentur RIA Nowosti, sonst bekannt für forsche Propaganda, berichtet von unhaltbaren Zuständen in der Müllbeseitigung in der Region Dagestan. Nach dem Moskauer Terroranschlag seien dort Migranten festgenommen worden, die bei den kommunalen Entsorgungsbetrieben tätig gewesen seien. Viele weitere ausländische Arbeitskräfte hätten die Teilrepublik inzwischen verlassen, um nicht selbst als "Terrorverdächtige" zu gelten.
Psychologische Kriegsführung aus Kiew?
Putin will nach eigener Aussage die "Ansätze in der Migrationspolitik tiefgreifend und radikal aktualisieren". Er sprach von der Bewahrung der "interethnischen Harmonie", warnte vor "Zwietracht und Panik" im Land und fügte an, es gelte grenzüberschreitend "echte Verbrechersyndikate" zu bekämpfen: "Der Grundsatz, dass nur diejenigen, die unsere Traditionen, Sprache, Kultur und Geschichte respektieren, in Russland leben und arbeiten können – dieser Grundsatz sollte entscheidend sein."
Das russische Innenministerium sah sich durch den massiven Druck von rechtsradikalen Nationalisten genötigt, die Migrationspolitik erheblich zu verschärfen. So sollen Einwanderer biometrisch erfasst und die Aufenthaltsdauer auf 90 Tage pro Kalenderjahr begrenzt werden. Arbeitgeber, die Migranten beschäftigen, sollen "stärker überwacht" werden. Das alles macht es für den Kreml nicht leichter, die Rüstungsindustrie am Laufen zu halten. Außerdem wachsen die ethnischen Spannungen, wobei russische Propagandisten wie der "Politologe" Sergej Markow mutmaßen, dass das innerrussische "Potenzial für aggressiven Nationalismus" insgeheim von ukrainischen Stellen geschürt werde - eine These, die unter Berufung auf Eingeweihte auch in der Londoner "Times" zu lesen war. Demnach müht sich Kiew mit "psychologischer Kriegsführung" um eine "Destabilisierung der russischen Gesellschaft".
"Das ist auch ein Problem"
Ausländischer Einfluss scheint jedoch gar nicht nötig: Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Putin-Partei "Einiges Russland", Andrej Isajew, forderte in einem Artikel für die "Rossijskaja Gaseta" eine radikale Wende in der Migrationspolitik. "Angesichts des Personalmangels auf dem Arbeitsmarkt besteht in unserem Land heute ein objektiver Bedarf, Wanderarbeiter zu gewinnen. Doch gleichzeitig führt ihre unkontrollierte Einreise in vielen Regionen zu schweren Spannungen und Konflikten", so Isajew wörtlich.
Aus "Trägheit" hielten die älteren Russen alle Migranten aus dem Bereich der ehemaligen UdSSR immer noch für "Bürger eines einzigen Staates": "Doch die Realität sieht völlig anders aus. Heutzutage beherrscht die überwiegende Mehrheit der Migranten die russische Sprache entweder nicht oder nur unzureichend und ist mit der russischen Kultur überhaupt nicht vertraut. Und das ist auch ein Problem."
"Von Jahr zu Jahr angespannter"
Blogger Dmitri Sewrjukow fordert wie viele andere ein neues Ministerium für Migration: "Wenn bis vor Kurzem noch Einwanderer kamen, um die Emigranten zu ersetzen, die unser Land verlassen haben, zeichnet sich nun ein anderer Trend ab, und auch die ausländischen Arbeitskräfte, die besuchsweise kamen, machen sich zur Abreise bereit. In einer Situation, in der mehr Menschen weggehen als ankommen, sind eine Änderung der Herangehensweise und eine sorgfältige Regulierung erforderlich, die nicht nur darauf abzielen sollten, Fremde anzulocken und unsere eigenen Landsleute zurückzuholen, sondern auch sicherzustellen, dass beide mit Einsatzfreude nach Russland kommen und nicht entschlossen zum heimlichen Widerstand."
Der Bevölkerungs-Wissenschaftler und Regime-Gegner Salawat Abilkalikow sagte derweil dem russischsprachigen Exil-Portal "Currenttime", kurzfristig vertreibe Russland die dringend benötigten zentralasiatischen Arbeitskräfte nicht nur durch den Nationalismus, sondern auch durch den Absturz des Rubels. In wichtigen Nachbarländern wie Kirgisien wurde die Benutzung russischer Bankkarten unterbunden. Nach zwei bis drei Monaten werde sich die aktuelle Hysterie zwar legen, aber viele Arbeitsmigranten aus Nachbarländern orientierten sich bereits an alternativen und lukrativeren Arbeitsmärkten, etwa in den Golfstaaten, der Türkei, Südkorea und China: "Bis Mitte der 2030er Jahre wird die Situation auf dem russischen Arbeitsmarkt von Jahr zu Jahr angespannter." Die beschleunigte Überalterung trage wesentlich dazu bei.
"In der Zwischenzeit gehen sie"
Der Kolumnist des liberalen Wirtschaftsblatts "Kommersant", Dmitri Drise, hält die Kreml-Aktivitäten in Sachen Migration für "beängstigend". Putin dürfe es keinesfalls "übertreiben", sonst sei die Wirtschaft ernsthaft gefährdet. Offenbar sollten die Regeln verschärft werden: "In der Zwischenzeit gehen sie. Natürlich nicht alle, aber viele." Viele hätten einfach Angst: "Es ist also einfacher, abzuwarten. Vielleicht kehrt bald ein gewisser Prozentsatz zurück, in der Hoffnung, dass der Sturm der Aktivitäten früher oder später nachlässt. In der Zwischenzeit ist es natürlich besser, in den Urlaub zu fahren, sonst könnte es sie teuer zu stehen kommen."
Womöglich solle es Putin mal ausnahmsweise mit einer "Liberalisierung" versuchen, so Drise: "Aus irgendeinem Grund wird jedoch angenommen, dass Verbote und Verschärfungen wirksamer sind, obwohl das Leben eindeutig beweist, dass das nicht der Fall ist." Am Ende müsse Russland wohl auf Roboter hoffen.
"Nazis 30 Kilometer vor Moskau"
Putins "Stabilität" breche derzeit auf dem Arbeitsmarkt zusammen, so russische Leser. Die einen fragten sich, wie Millionen von ausländischen Arbeitskräften effektiv überwacht werden sollten, andere kritisierten, dass Russland bis jetzt keine biometrischen Daten erfasst habe. Es gab auch Russen, die Ausländer nicht im europäischen Teil des Landes eingesetzt sehen wollten, sondern nur in der Arktis. Mit Blick auf die russische Bürokratie hieß es: "Jetzt werden sie eine Agentur mit 50.000 Stellen gründen, mit Hilfe derer weitere 50.000 Familienmitglieder und Inhaber von Reisedokumenten-Verarbeitungsbüros köstlich essen und trinken werden. Insgesamt wird das Land durch die Schaffung einer Migrationskontrollbehörde 100.000 bis 150.000 neue Migranten benötigen."
Für Amüsement sorgte der Chef der russischen Kommunisten, Gennadi Sjuganow. Er sagte "Übrigens, während des Zweiten Weltkriegs, als die Nazis 30 Kilometer von der Hauptstadt entfernt standen, gab es in Moskau keinen einzigen Terroranschlag." Dazu hieß es bei Bloggern ironisch: "Denken Sie immer dran, dass manche Wünsche in Erfüllung gehen. Die Kommunisten sind heutzutage seltsam."
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