Der Kreml wird nicht müde zu betonen, dass es genug Freiwillige für den Fronteinsatz gebe und somit keine weitere Mobilisierung nötig sei. Das soll die russische Öffentlichkeit beruhigen. So behauptete Dmitri Medwedew, der Ex-Präsident und jetzige stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, täglich würden rund 1.000 Verträge unterschrieben, die "Wiederauffüllung" der gelichteten Reihen sei kein Problem.
Dazu passt allerdings nicht die jüngste Meldung, wonach Putin Freiwilligen vom 1. August bis zum Jahresende eine einmalige Antrittsprämie von umgerechnet rund 4.000 Euro aus Bundesmitteln in Aussicht stellt, eine erstaunliche Aufstockung angesichts des bisherigen, halb so hohen Betrags. Den russischen Regionen wurde nahegelegt, die neue Prämie aus ihren eigenen Haushaltsmitteln zu verdoppeln, was sich auf insgesamt 8.000 Euro summieren würde. Der monatliche Sold für Freiwillige liegt bei rund 2.000 Euro, was weit über dem russischen Durchschnittsgehalt von etwa 750 Euro liegt.
Angst vor neuer Mobilisierung
Manche Kommentatoren fühlen sich angesichts der offenkundigen Personalprobleme an der Front an den Oktober 1917 erinnert, als die russische Gesellschaft wegen der großen Verluste im Ersten Weltkrieg kriegsmüde war und ein politischer Zusammenbruch folgte. Manches sei absolut vergleichbar: 92 Prozent der zaristischen Frontkämpfer waren Bauern, stammten also aus der ärmsten Schicht. Gleichzeitig wurde die damalige Elite, die von der Rüstungswirtschaft profitierte, mit Geld überschwemmt, was den inländischen Konsum und die Inflation anheizte und das Leben der weniger Gutgestellten weiter erschwerte.
Blogger Andrei Schalimow empfahl dem Kreml, unter den Millionen inländischen Sicherheitskräften mehr Leute für die Front zu gewinnen. Im Übrigen erwartet Schalimow eine weitere Aushebung: "Wenn in großen Regierungspublikationen Materialien darüber erscheinen, dass zu Beginn des Ersten Weltkriegs in kürzester Zeit eine große Zahl von Menschen mobilisiert wurde, ist das ein ernst zu nehmendes Signal, das anscheinend der Vorbereitung dient. Was wäre, wenn uns beispielsweise morgen gesagt würde, dass eine neue Mobilisierung erforderlich sei und dass nur diese dazu beitragen werde, den Krieg zu gewinnen und zu beenden, den alle satt haben?"
"Einziges Motiv für Fronteinsatz ist Geld"
Bei einem weiteren Beobachter mit 157.000 Fans heißt es: "Putins Entscheidung, Menschen mit stapelweise Rubeln in die Armee zu locken, ist ein schwerer Schlag für seine Autorität, für die Stärke und Attraktivität der russischen Waffen, den Siegeskult und den Fabeln der Militäroffiziere. Es stellt sich heraus, dass das einzige Motiv, an die Front zu gehen, darin besteht, Geld zu verdienen!" Offenbar fehle es an konkreten Zielen und fähigen Kommandeuren.
Obendrein stehe Russland angesichts des Arbeitskräftemangels und des Geburtendefizits vor einer "demografischen Katastrophe": "Es stellt sich heraus, dass die schlecht durchdachte Spezialoperation den russischen Staat so sehr schwächt, dass er bald unter der Last dieses Problems zusammenbrechen wird, zur Freude nicht nur des Westens, sondern auch Chinas."
"Billiges Kanonenfutter ist weg"
Der auch im Westen publizierende Politologe Wladislaw Inosemtsew verwies darauf, dass Rückkehrer von der Front potentielle Freiwillige warnten, bei einem Vertragsabschluss könnten sie sich gleich eine Kugel in den Kopf jagen: "Man geht richtigerweise davon aus, dass es ein Krieg der Armen ist, der von den sehr Reichen geführt wird. Die ersteren brauchen immer noch Geld und die letzteren haben es nach wie vor." Inosemtsew verweist ironisch darauf, dass sich der Kreml wie einst das Britische Empire darum bemüht, sozial schwache Migranten aus randständigen Regionen für die Front anzuheuern.
Der kremltreue Blogger Roman Aljechin (136.000 Fans) begrüßte die "attraktiveren" Bedingungen für Frontsoldaten, schränkte jedoch ein: "Es kommt allerdings darauf an, dass Informationen von der Front der Realität entsprechen müssen und nicht falsch sein dürfen. Verlogene Kommandeuren sind ein wesentlicher Punkt, der Menschen davon abhält, einen Vertrag abzuschließen." Je konsequenter Vorgesetzte das Leben ihrer Untergebenen schützten, desto mehr Freiwillige werde es geben.
Exil-Politologe Anatoli Nesmijan spottete über die "Großzügigkeit" des Kremls: "Es gibt immer weniger Menschen, die bereit sind, sich trotz finanzieller Vorteile zu verpflichten, und daher gilt für den Todesmarkt dasselbe Prinzip von Angebot und Nachfrage wie überall sonst – wenn ein Produkt knapp wird, steigt sein Preis." Ähnlich Politkommentator Abbas Galljamow: "Das billige Kanonenfutter ist weg."
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